In einem Satz auf den wahren Kasseler Herkules

Keine Ahnung, wie man bei 37 Grad im Schatten, wo es gar keinen Schatten gibt, die Treppen auf das Kasseler Herkuleswahrzeichen raufkommen soll, vielleicht ganz sinnig, Schritt für Schritt und mit Achtsamkeit für die Pumpe, indem man alles um sich herum vergisst, Raum und Zeit, die Arme rechts und links schlackern lässt und los, bis der Flow kommt, wow, das ist so ein starker Moment, wo es plötzlich keine Treppenstufen mehr gibt, sondern nur noch schiefe Ebenen, auf denen man zum nächsten Treppen- oder Bewusstseinsstufe raufgleitet, okay, schwitzen tut man auch, und bei dieser Affenhitze erst recht und nicht zu knapp, aber Dusche braucht man nicht, hier verdunstet alles, bevor es abgestanden ist, sprich, wenn die Naturgesetze kurz aussetzen, hat man für einen kurzen Moment die Chance, seine tiefsten Wünsche und höchsten Ambitionen zu erreichen, was sagst du, Herkules, der du da oben stehst und dich im Himmel bespiegelst – mir persönlich geht ja diese herkulische Treppen-, Kaskaden- und Heldenverehrungsanlage tierisch auf die Eier, jetzt ist es raus, aber zu ihm muss man hoch und durch, per aspera ad astra, wie es so schön auf Latein heißt – erst mit Schweiß schmeckt das Bier oder so ähnlich –, aber, alle mal hergehört, aufgemerkt und also, unser Ziel ist nicht dieser große Herkules, in dessen Schatten wir uns die Lebenstreppe raufquälen, sondern jener andere Gott, der bescheiden an der Seite steht, kein großes Aufhebens von sich macht, keine Keule und auch nicht jemandes abgezogenes Löwenfell nötig hat, sondern einfach der Kleine Herkules heißt, von dem auch die Einheimischen, vorhin in Museumshop und Schlosscafé exklusiv befragt, keinen Plan hatten, Kleiner – was? nie gehört, tja, so weit ist es schon gekommen, dass die Touris kommen müssen, den Einheimischen ihre schönsten Herkulesse wieder in Erinnerung zu rufen und zu zeigen, wie eben jenen kleinen, der versteckt oben im Hüttenwald unter Moos und Wurzeln hockt und entdeckt werden will, von wem, ist ihm schietegal, Hauptsache da kommen endlich ein paar Typen mit gelben Anstaltsbeutel rüber und küssen ihn wach, darunter macht er’s nicht, wo er ja schon seit Sechzehnhundert und ein paar Zerquetschten da oben als ein Gemäuer rumlungert, gemäß einem vergessenen und nie zu Ende gebrachten Wasserbauwerk, das dem damaligen Landgraf am Ende nicht protzig und großärschig genug war, sodass er befahl, einen kleinpimmeligen und aus Blech zusammengeschusterten Herkules auf ein fünfzig Meter hohes Oktogonpodest oberhalb des Karlsbergs zu stellen, wo er hoch heute in Richtung des malerischen Kassel seine Muskeln spielen lässt, was nun schon wieder wegführt von unserem eigentlichen Thema, dem bescheidenen und, wenn man so will, demokratischeren und menschlicheren Kleinen Herkules, den man nicht mehr sieht, weil er, wie gesagt, im Habichtswald ab- oder doch besser untergetaucht ist, wofür er a) einen Orden verdient hätte und man b) oben am Treppenende links abbiegen muss, Richtung Hüttenberg, wo der Wanderweg auf dem Kamm weitergeht, links und rechts fällt es jäh ab, aber wir lassen uns nicht vom Ziel ablenken und schreiten munter fürbass, was weiter heißt, bevor sich die bedenkliche Stimme in einem meldet, tja, manchmal hat sie schon ihre Berechtigung, die bedenkliche Stimme, aber hier ist sie total fehl am Platze wie eine Schnecke auf einem Snickers, denn wir suchen verdammt noch mal den Kleinen Herkules und keine Lappalie, dabei können, nein, dürfen wir uns nicht von jedem herbeigelaufenen Bedenkenträger in die Parade fahren lassen, apropos, auch die rot-weißen Flatterbänder, die irgendein Witzbold quer über den Weg aufgespannt hat, wegen Fällarbeiten, guter Witz, einfach ignorieren, rüber und weiter, so einfach lassen wir uns jedenfalls nicht von unserem Weg abbringen, wo wir so kurz vor dem Ziel stehen, ja, ich gebe zu, eine kleine Sache kommt noch dazu, denn dieses Hinweisschild, auf wackligen Holzbeinen, das vor vier Jahren noch dastand und uns den Weg zum Kleinen Herr-Cooles wies, ist jetzt weg, futschikato, haben sie einfach abgesägt, die Schweine, damit ihn keiner mehr findet, hallo?, wir sollen uns alle mit dem einen großen Muskelherkules begnügen, dem Pornokules, und die Erinnerung an den Kleinen Herkules vergessen, das Symbol für Friedlich- und Kleinwüchsigkeit, nee, nicht mit uns, das kommt nicht in die Tüte, denn wir haben Gespür, Feinfühlung und scharfe Augen, den Pfad zu entdecken, der plötzlich links in den Hang abschwenkt und zu unserem 1-A-Kraftort führt, bong, da isser, so viel kann ich schon mal verraten, unser Ziel war von Anfang an da, will heißen, wir selbst sind es, mehr oder weniger, gleich im Unterholz, denn jeder muss sich selber, allein oder in der Gruppe, auf den Berg und zu seinem Herkules machen, noch mal im Geiste die Jahrhunderte in die Tiefe runtergleiten, mit oder ohne Gleitmittel, die Treppen in Natur und Geschichte, hinein in Bergwald und Vulkangestein, bis der Flow kommt, die Pumpe fast kollabiert, und wenn man dann noch Glück hat oder ein Bier, das täte auch schon reichen, lüftet der Bergwald vielleicht kurz den Schleier und dann steigt aus Tuff, Moos und Wurzeln hervor, ja, wer: der einzige und wahre – Kleine Herkules.

Ihr Jürgen Block

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