In einem Satz: Was Tapeten anrichten können

Der Bildungsaspekt des Tapezierens wird unterschätzt, sagte Wassili und erklärte auf die erstaunten Blicke von Gruscha, Alija und Edita, dass es der Onkel von Sofja Wassiljewna Kowaleskaja gewesen sei, der das Kinderzimmer mit einem Vorlesungsmanuskript des ukrainisch-russischen Mathematikers Michail Ostrogradski, das er auf dem Dachboden gefunden hatte, tapezierte, womit sich die kleine Sofja anschließend intensiv beschäftigte und so mit den Studien ihres Vaters über Differential- und Integralrechnung schon im vorpubertären Alter gediegene mathematische Kenntnisse erlangte, weshalb der Vater ihr schließlich die weitere Beschäftigung mit der Mathematik untersagte, was jedoch nichts nützte, da sie diesen Studien nun heimlich nachging, etwa indem sie ein Physikbuch las, das der Nachbar, Professor Tyrtow, geschrieben hatte und dem sie anschließend seine Erläuterungen zum Sinus erklärte, worauf der sich dafür einsetzte, das Sofja weiterhin in Mathematik unterrichtet wurde, so etwa von Professor Strannolubski in Sankt Petersburg, wo sie sich in Dostojewski verliebte, der aber ihre Schwester Anna viel interessanter fand, was aber Sofja nicht in eine Krise stürzte, sondern sie die Überlegung anstellen ließ, ein Studium im Ausland aufzunehmen, und so heiratete sie den Studenten Wladimir Onufrijewitsch Kowaleswki und zog mit ihm nach Wien, wo sie Vorlesungen besuchte, aber nicht lange in der teuren habsburgischen Metropole blieb, sondern nach Heidelberg ging, dort allerdings nur Gasthörerin sein durfte, da Frauen die Immatrikulation nicht gestattet wurde, was sie nicht davon abhielt, einen der Professoren derart zu beeindrucken, dass er sie nach Berlin zu dem Mathematiker Weierstraß empfahl, der sie nach einer strengen Prüfung als Privatstudentin aufnahm – und vermutlich nicht nur als solche –, sie vier Jahre unterrichtete und ihr später auch die Promotion ermöglichte, die sie in Göttingen summa cum laude abschloss, nachdem sie drei Dissertationen gleichzeitig eingereicht hatte, wonach sie zurück nach Russland ging, um dort unterrichten zu können, was man ihr aber verwehrte, weshalb sie sich von der Mathematik abwandte, ein normales Leben probierte, sich aber in Grundstücksspekulationen verwickelte, auf der Flucht vor ihren Gläubigern in Moskau über die Mathematische Gesellschaft wieder mit der Mathematik in Berührung kam und sich auf den Weg zurück über Berlin nach Paris in den Westen begab, wo sie es mit der Hilfe von Freunden schaffte, in die Pariser Mathematische Gesellschaft aufgenommen zu werden, und schließlich nach Stockholm, wo der schwedische Mathematiker Gösta Mittag-Leffler es nach langen Bemühungen erreicht hatte, ihr eine Stelle als Privatdozentin zu verschaffen, was nur gelungen war, weil ihr Mann, von dem sie schon lange getrennt lebte, inzwischen gestorben und sie eine respektable Witwe war, das jedoch die öffentliche Meinung nicht positiv beeinflussen konnte und sogar den Schriftsteller August Strindberg sich dazu hinreißen ließ, zu schreiben, dass eine Frau als Mathematikprofessor eine schädliche und unangenehme Erscheinung oder anders gesagt, eben ein Scheusal sei, weshalb es wohl besser sei, sagte Wassili, Kinderzimmer ohne Tapeten zu lassen und lieber einfarbig zu streichen, worauf er seinen Pinsel in den Farbtopf tauchte und begann, die Wand mit einer schmutzig-gelben Farbe zu bekleckern.

Bis zum nächsten Satz!

Ihr Horst-Dieter Radke

Teilen: