In den Schreibratgebern heißt es: Führen Sie doch mal ein Interview mit ihrem Protagonisten! Also begab ich mich im letzten Sommer mit einem Diktiergerät bewaffnet nach Äthiopien, um den Helden meiner geplanten Romanbiografie zu befragen, einen Mann, der in Äthiopien geboren wurde, aber etwa ein Drittel seines Lebens in Deutschland verbrachte und manchmal nicht mehr weiß, ob er Deutscher oder Äthiopier ist. Zurück kam ich mit mehr als zwanzig Stunden aufgezeichneten Gesprächen und einer Vielzahl Informationen, die ich nebenbei mitgenommen hatte. Jetzt, im Berliner Winter, gönne ich mir kleine Ausflüge nach Afrika, indem ich unsere Gespräche abhöre, in Schriftform bringe und mich dabei an die Momente erinnere, in denen wir sie geführt haben.
Adanes Geschichte hörte ich zum ersten Mal, als ich im letzten Februar mit einer Reisegruppe von Addis Abeba nach Bahir Dar am Tanasee fuhr. Der Tanasee ist etwa viermal so groß wie der Bodensee und gehört damit nicht einmal zu den fünf größten Seen Afrikas – nur um Ihnen eine Vorstellung von Dimensionen zu geben. In Afrika sind so viele Dinge so viel größer als in Europa, und Reisen ist so viel beschwerlicher. Unser Kleinbus tuckerte mit höchstens dreißig Stundenkilometern über die Straße, die zwar erst vor wenigen Jahren von Chinesen gebaut worden war, allerdings ohne den Untergrund auf die vielen schweren LKWs vorzubereiten. Das Ergebnis sind Bodenwellen überall, die das Tempo drosseln. Wir hatten Zeit und lauschten Adanes unglaublicher Lebensgeschichte, verfolgten seinen Weg von der äthiopischen Savanne in die DDR an die Friedrich-Schiller-Universität in Jena, in das wiedervereinigte Deutschland, später in den Schnee von Ulan-Bator und schließlich zurück nach Äthiopien. Adane verstand es, die Cliffhanger zu setzen. Es packte mich schnell: Diese Geschichte wollte ich schreiben. Kurz vor Ende der gemeinsamen Rundreise im Kleinbus wurden wir uns einig, und einige Monate später reiste ich erneut nach Äthiopien – mit einem Diktiergerät und einer Menge Fragen im Gepäck, von denen die vordergründigste war: Würden Adane und ich uns so gut verstehen, dass er bereit wäre, mir seine Geschichte zu erzählen? Nicht nur die kurze, an hunderten von Touristen erprobte, sondern die lange?
Am Anfang stand noch eine Reise, nämlich von Addis Abeba nach Dire Dawa. Dort lebt Adane, wenn er nicht gerade mit Touristen im Land unterwegs ist. Er holte mich in Addis ab, und wir fuhren am nächsten Morgen mit dem Zug weiter. Die Bahnstrecke hatten ebenfalls Chinesen gebaut, sie war erst vor einem halben Jahr eröffnet worden. Tatsächlich hatte der Zug nach achthundert Kilometern nur ca. eine Stunde Verspätung, was auch in Deutschland ab und zu vorkommt. Meistens waren es Rinder oder Ziegen, die den Zug zu harten Stopps zwangen. Mich störte das nicht, ich hatte Zeit. Schwerer zu ertragen war, dass es etwa drei Stunden Fahrzeit brauchte, ehe die elektrischen Geräte im Zug funktionierten und es endlich Kaffee gab. Und dann war die erste Runde Kaffee für mich ungenießbar süß. Erst eine weitere Stunde später gab es – extra für mich – ungesüßten Kaffee, der meine Lebensgeister weckte. Adane und ich begannen miteinander zu reden. Was wir dann noch zehn weitere Tage taten. Zu Beginn fiel es mir schwer, das Diktiergerät zu benutzen, weil ich fürchtete, es würde Adanes Erzählfluss stören. Aber als er mich nach zwei Tagen fragte, wann wir denn arbeiten würden, wusste ich, dass ich nun auch die Technik einsetzen konnte. Ich hatte allerdings längst angefangen zu arbeiten, Notizen gemacht und versucht, ein Gefühl für Adane, sein Leben und sein Denken zu bekommen. Doch natürlich hatte Adane recht. Ich packte das Diktiergerät aus und stellte es mit auf den Tisch, wenn wir versuchten, sein Leben halbwegs chronologisch zu durchlaufen.
Ab dem dritten Tag redeten wir mit der Unterstützung von Kath, dem äthiopischen Rauschmittel schlechthin. Man kauft es in Äthiopien an jeder Straßenecke, es ist abgepackt in Bündel von vielleicht fünfzehn Zweigen, die mit Plastik umhüllt sind. Die Droge ist in Äthiopien absolut legal, wie jeder Händler interessierten Weißen sofort erklärt. Doch es sind hauptsächlich die Einheimischen, die sich damit eindecken, in Dire Dawa gibt es ohnehin kaum Touristen, und Kath ist in Europa eher nicht verbreitet. Was damit zu tun hat, dass es frisch gekaut werden muss, da es seine Wirkung nach drei bis vier Tagen verliert.
Anfangs hatte ich Bedenken, denn von allem, was ich über Kath gehört hatte, war mir vor allem in Erinnerung geblieben, es mache geil. Sollte ich tatsächlich den Nachmittag unter kathkauenden Männern verbringen (natürlich sind es die Männer, die sich zum Kath treffen, die Frauen sind immer beschäftigt und haben keine Zeit dafür)? Brauchte ich wirklich so viel Authentizität? Nach einem Blick auf die harmlos und freundlich wirkenden Männer entschied ich mich dafür. Ich selbst würde jedoch auf die Droge verzichten.
Mit dem Kath beginnt man nach dem Mittagessen. Zwischen 13 und 14 Uhr, wenn es unerträglich heiß wird, treffen sich die Männer bei einem Freund. Jeder kommt mit seinem Bündel Kath unterm Arm. Der Freund hat auf seinem Grundstück extra einen Raum für diese nachmittäglichen Treffen gebaut: eine runde Hütte, in der bis zu acht Männer Platz haben. Drinnen stapeln sich an den Wänden auf dem Boden Sitzkissen, Kath kaut man nämlich auf dem Boden sitzend. Bevor die Männer sich niederlassen, ziehen sie Hose und Hemd aus und schlingen sich ein Tuch um die Lenden, Oberschenkel und Knie. Die Angestellte des Hauses bringt Wasser, und die Männer beginnen ganz allmählich mit ihrem Ritual. Alles geschieht langsam, denn es ist heiß – während meines Aufenthaltes bewegten sich die mittäglichen Temperaturen immer knapp unter der 40°-Marke. Die Männer haben Zeit, sie werden Stunden hier sitzen und allmählich die vor ihnen liegenden Zweige in Blätterportionen leer kauen. Immer, wenn sie einen neuen Zweig aus der Umhüllung ziehen, klopfen sie ihn leicht auf den Boden, um Staub oder darin verborgene Insekten aufzuschrecken. An diesem ersten Tag fragten sie mich, ob ich probieren wolle, aber ich schüttelte den Kopf und sagte: „Ich möchte einen klaren Kopf behalten.“
Kath könne mir helfen, mich zu fokussieren, sagten die Männer.
Ich schüttelte nochmals den Kopf. Wie sollte ich ihnen erklären, dass ich Angst hatte, sie könnten nach dem Genuss von Kath über mich herfallen (oder ich über sie?) Also erzählte ich, dass ich schon einmal Kath gekaut hätte, mir der bittere Geschmack einfach nicht zusage. Achselzuckend nahmen sie es zur Kenntnis und ließen Adane und mich in Ruhe. Auf meinen Aufzeichnungen höre ich als Hintergrundgeräusch zu meinem Gespräch mit Adane, wie sie sich unterhalten. Genauso ruhig, wie sie sich bewegten. Hin und wieder sagt einer etwas, dann schweigen sie, dann sagt jemand anders etwas. Im Hintergrund läuft der Fernseher, es gibt Fußball, Musikvideos und Nachrichten. Aber die äthiopischen Nachrichten aus jenen Tagen sind ein Thema für sich.
Nüchterne Grüße
Ihre Dorrit Bartel
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