Die ersten Tage meiner Reise standen ganz im Zeichen von Nachrichten und Politik. Schon in Addis Abeba hatte Adane mich mit den Worten begrüßt: „Wir machen Frieden mit Eritrea, kannst du dir das vorstellen?!“ Es waren die ersten Monate der Amtszeit von Ministerpräsident Abiy Ahmed, der von der Bevölkerung sehr verehrt wird, denn er hat tiefgreifende Veränderungen für Äthiopien auf den Weg gebracht. Alle waren elektrisiert von der Aussicht auf Veränderungen zum Guten. Abiy Ahmed räumte im Staatsapparat auf, am Tag nach meiner Ankunft entließ er den Armeechef. Zwei Tage später lief auf allen Fernsehern im Hotel, aber auch in den Cafés in der Stadt eine Kundgebung in Addis, auf der Abiy Ahmed vor zehntausenden Anhängern sprach. Eine alte Volkweise untermalte die Übertragung, ich hörte sie den ganzen Tag. Die Heiterkeit des Liedes und die Zuversicht der Menschen reichten von Addis bis nach Dire Dawa. Die Menschen trugen T-Shirts mit Ahmeds Konterfei und dem Schriftzug „We support you“. Doch als wir in unserem Frühstückscafé ankamen, hatte sich die Stimmung verändert: Auf der Kundgebung in Addis war eine Bombe explodiert. Mindestens ein Mensch starb, und über 150 wurden verletzt. Ich fragte mich, welche Macht ein geschasster Militärchef noch hatte und wurde nervös. Inmitten eines Militärputsches wollte ich mich nicht wiederfinden und trug mich vorsichtshalber in die Krisenvorsorgeliste des Auswärtigen Amtes ein, auch wenn Adane mich auslachte.
Vier Tage später bekam ich eine E-Mail von der Deutschen Botschaft in Addis Abeba, die alle Deutschen in Äthiopien zum Public Viewing einlud, denn es war gerade die Zeit der Fußball-WM. Das beruhigte mich – wenn die Botschaft sich um so etwas kümmern konnte, musste ich mich nicht ängstigen. Bis dahin hatten wir schon etwa acht Stunden Gespräche aufgezeichnet, und ich war Stammgast in der nachmittäglichen Kathrunde geworden. Kath kaute ich immer noch nicht, aber inzwischen trank ich Bier und schaute Adane fasziniert zu, der immer Zucker nachwarf, weil er den bitteren Geschmack des Kath nicht mochte. Das tat er so, dass er den Löffel dabei mit den Lippen nicht berührte. So, wie es auch beim Essen mit den Fingern in Äthiopien üblich ist. Auf einer Platte mit dem typisch äthiopischen, weichen, sauren Brot Injera werden für mehrere Personen Fleisch- und Gemüsegerichte serviert. Jeder reißt sich vom Injera kleine Stückchen ab, nimmt damit ein Stück Fleisch oder Gemüse und steckt sich das mundgerechte Bündel in den Mund. Klingt einfach, aber die Kunst ist, dabei mit den Fingern nicht die Lippen zu berühren. Das gelang mir leider eher selten, irgendwie war immer ein Finger an der Unterlippe.
Wir redeten und vergaßen die anderen Männer im Raum. Auf dem Band höre ich ihre kurzen, ruhigen Sätze mit langen Pausen dazwischen. Nichts an ihnen war beängstigend, und inzwischen lachte ich darüber, dass ich mich gefürchtet hatte. Von ihren Gesprächen verstand ich nichts, denn meine Amharisch-Kenntnisse beschränkten sich nach wie vor auf Amässägenalo (Danke) und Bouna ba whatat (Milchkaffee).
Einmal fragte ich Adane, womit diese Männer ihren Lebensunterhalt verdienten. Er sah mich erstaunt an. „So etwas fragt man hier nicht.“
So vergingen unsere Tage: Wir frühstückten, redeten ohne Aufzeichnung miteinander, aßen irgendwo zu Mittag, trafen Freunde zum Kath, dem ich mich weiter verweigerte, und redeten mit Aufzeichnung weiter. Manchmal wurde Adane ungeduldig, wenn ich ihn etwas fragte, was er mir schon erzählt hatte. Doch ich vergaß alles, was ich auf Band hatte, fast sofort, um mir zu merken, was ich nebenbei herausfand. Ungeduldig wurde er auch, wenn ich ihn nicht verstand. „Du denkst wie eine Europäerin“, sagte er nicht nur einmal. „Natürlich, Adane, ich bin Europäerin.“
Nach fünf Tagen hatte ich genug vom Zuhören und erzählte ungefragt das eine oder andere aus meinem Leben, das mir allmählich abhanden kam in unseren Gesprächen. Ich ging eine Stunde allein spazieren, setzte mich in den Hof des Hotels und machte ein paar Notizen. Zuversichtlich registrierte ich, dass mir einzelne Szenen für das Buch einfielen, doch gleichzeitig verzweifelte ich an der Fülle des Stoffs. Wie sollte ich das je in einen Roman verwandeln?
An diesem Nachmittag erzählte Adane mir über eine Zeit seines Lebens, über die er eigentlich nicht sprechen wollte. Vielleicht lag es am Kath, vielleicht hatte er jetzt endgültig Vertrauen zu mir gefasst. Es strengte ihn sichtlich an, und ich glaube, er war froh, als bald danach die Kathzweige kahl am Boden lagen und wir uns auf den Abend vorbereiteten. Die Männer zogen sich ihre Hosen und Hemden wieder an. Zufällig sah ich, wie einer von ihnen unter das Sitzkissen griff, an das er sich bis eben noch gelehnt hatte, mit einer raschen Geste eine Pistole darunter hervorzog und sie sich in den Hosenbund steckte. In diesem Moment traute ich – im wahrsten Sinne des Wortes – meinen Augen nicht und erkundigte mich bei Adane, ob ich richtig gesehen hatte.
„Er war bei der Armee, er darf das.“
„Wie bitte?“
„Jetzt ist er Chef vom Finanzamt.“
„Und treibt die Steuern mit Waffengewalt ein?!“
Lachend drückte Adane sich um eine Antwort. Und ich fragte mich, ob es nicht ein bisschen naiv von mir war, einfach so in dieses fremde Land zu fahren und darauf zu vertrauen, dass alles gut gehen würde.
Vertrauensvolle Grüße
Ihre Dorrit Bartel