Joan entwickelt Romanfiguren: Von der Toilettenbürste zur sozialistischen Weltrevolution

Im letzten Herbst war ich bei uns im Supermarkt einkaufen. Ich weiß noch, dass ich blendender Laune war, meinem Dreijährigen und mir war es nämlich gelungen, einen dieser Einkaufswagen zu ergattern, die halbe Tretautos sind. Außerdem hatte ich gerade mit dem Schreiben meines neuen Romans begonnen, noch vage, ein wenig ins Blaue hinein – sie, die Heldin hatte ich bereits ganz gut im Griff.  Nur er – er sperrte sich noch. Seit Jahren schon will ich einen Doktor-Schiwago-Typ als Love Interest haben, Sie wissen schon: mit dunklem, seelenvollem Blick und so einem Lächeln, das die Augen nie erreicht. Im wahren Leben trifft man solche Männer viel zu selten, und wenn doch, dann sind sie einfach nur mürrische Fahrkartenkontrolleure. Fritz Faber, so der Name meines zu entstehenden Love Interests, sollte aber nicht für die Reichsbahn arbeiten, er sollte Arzt sein – Armenarzt in Berlin, 1919. So weit war ich schon, als ich an jenem Herbsttag meine Milch aufs Band legte. Und dann – dann geschah es.

„Entschuldigen Sie“, fragte mich eine Stimme, und als ich mich umdrehte, stand er da! Fritz Faber.

Er hielt mir eine Flasche WC-Reiniger – extra wirksam auch unter dem Rand! – sowie eine Toilettenbürste entgegen und bat: „Könnten Sie mich vielleicht vorlassen? Ich habe nur diese beiden Artikel.“

Und all das sagte er mit einem so unwiderstehlich wilden Ausdruck in den Augen. Natürlich hatte es eilig, angesichts der ernsten Lage durfte es keine weiteren Verzögerungen geben.

Mir war klar, hier stand ein Mann mit einer Mission. Sollte das Leben doch versuchen, ihn mit Urinstein, Kalkstein oder gar hartnäckiger Verschmutzung von seiner Vision einer strahlend reinen, einer besseren, schöneren Toilette abzuhalten. Er würde sich nicht unterkriegen lassen. Keine noch so böswillige Ablagerung würde ihm trotzen! Bis zur Erschöpfung, ja, bis zur Selbstaufgabe würde er scheuern, schrubben, bürsten. Hier gab es nur Sieg oder Tod.

Angesichts solcher Entschlossenheit blieb mir nicht viel mehr, als freundlich zu lächeln und zu weichen – wer war ich, mich zwischen einen Mann und seinen Lebenstraum zu stellen?

Und wie ich dann so hinter ihm stand, da wusste ich es! So, genau so, würde Fritz Faber dreinsehen, wenn er vom Frieden, von der sozialistischen Revolution und der Zukunft spräche – von diesem Moment an, da hatte ich ihn, meinen Fritz, den Arzt mit der roten, am Ende zerbrechenden Seele.

Ich gestehe, so mache ich es mit fast allen meinen Figuren. Es gibt sie wirklich, irgendwo – von Willi Genzer, dem handfesten Liebhaber hübscher Frauen, bei dem ich jeden Samstag mein Gemüse kaufe, bis zum hohlwangigen Blondschopf Hans von Keller, der mir mit seinen eleganten, leicht zitternden Händen manchmal die Büchereibücher über die Theke reicht. Meist genügt mir eine Geste oder wie beschrieben ein Blick, und schon entfaltet sich der ganze Mensch samt seiner Geschichte vor mir.

Deshalb mein bester und einziger Tipp zur Figurenpsychologie: Schauen Sie sich um, Sie wissen nie, wo Sie Ihrem Mörder begegnen!

Viel Spaß beim Beobachten wünscht Ihnen

Ihre

Joan Weng

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