Joan liest gerade: Heidi Rehn – Das Haus der schönen Dinge

Erinnern Sie sich noch an die Zeit, in der man auf Partys ging? Ich meine, richtige Partys – nicht die Sorte, bei der man über die Nachteile des Thermomix und die Vorteile einer privaten Krippe spricht. Ich rede von den Partys, bei denen niemand Geld, aber jeder Rotwein hatte; bei denen die Männer Pfeife rauchten und keiner es seltsam fand, wenn jemand zu fortgeschrittener Stunde Hemingway mit Gabi Hauptmann verglich. Die denkwürdige Sorte Partys eben!

Aber manchmal, wenn keine Zeit war, weil am nächsten Tag Prüfung anstand, dann hieß es: „Ich komm, aber nicht lange“. Damit war dem Protokoll genüge getan, die Party konnte starten.

Heidi Rehns „Das Haus der schönen Dinge“ ist das literarische Pendant dieser Partys. Wir ziehen gerade um, ich habe keine Zeit, ich wollte wirklich bloß ein paar Seiten lesen. Ganz ehrlich! Nur, es ging nicht. Der Roman über die jüdische Kaufhausdynastie Hirschvogel ist einfach zu gut, zu packend, zu dicht. Über einen Zeitraum von knapp hundert Jahren darf man die Weltgeschichte am Beispiel einer Familie verfolgen, und wenn es Kritiker gibt, die meinen, das würde die Handlung des Romans vorhersehbar machen, dann kann ich nur sagen: Den Film „Waterloo“ schaut auch keiner wegen des überraschenden Endes! Rehn gelingt das Kunststück, die Lebensgefühle verschiedener historischer Epochen greifbar zu machen. Das liegt sicher an ihren sehr vielschichtigen Protagonisten, vor allem aber an dem Kunstgriff, das Verstreichen der Zeit auch am Warenhaussortiment zu zeigen. Und wie sie es zeigt! Ach, wie ich es geliebt habe, mit Lily Hirschvogel durch dieses opulente Paradies der Damen zu schlendern! Was für eine verlorene Welt, und was für ein Verlust für die Welt!

Weinend habe ich zwischen meinen Umzugskisten gehockt, als den Hirschvogels widerfährt, was so vielen Familien passierte, die sich assimiliert glaubten, und obwohl die Familie selbst erfunden ist, ihr Schicksal ist es nicht.

Ein ganz hervorragender Roman, der mich noch lange beschäftigen wird.

Ihre Joan Weng

 

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