Joan liest gerade: Juri Buida – Nulluhrzug

Einer meiner besten Freunde ist Russe – aus St. Petersburg, nicht aus Moskau, was er gerne betont wissen will, auch wenn es für diesen Blogbeitrag ohne jede Bedeutung ist. Die St. Petersburger Russen gelten wohl gemeinhin als besonders kultiviert, und dem kann ich mich so anschließen. Als Student besaß mein Freund rein gar nichts, kein Bett, keinen Tisch, keinen Stuhl, nicht einmal ein Regal – aber er nannte ein silbernes Obstmesserchen sein eigen. Wann immer ich an ihn denke, sehe ich ihn auf seiner Geschenkmarkt-Matratze sitzen und mit jenem filigranen Messerchen eine Orange schälen. Keine Möbel zu haben, war studentische Armut. Eine Orange mit den Fingern zu häuten? Das grenzte an Barbarei!

Natürlich liest er sehr gerne und auch viel, aber es ist sehr schwer, seinen Geschmack zu treffen. Kürzlich schenkte ich ihm „Raufschlafen“ – einen von der Sex-and-the-City-Autorin stammenden leichten Roman über … na ja, über das Raufschlafen in der New Yorker Society eben. Es war die reine Spottsucht, die mich trieb, doch zu meiner großen Überraschung zeigte mein Freund sich sehr angetan von diesem Machwerk, fand er doch die menschliche Natur darin in Gänze erfasst. Er dankte mir, indem er mir Juri Buidas „Nulluhrzug“ überreichte.

Ich wusste ehrlich gesagt nicht recht, was ich damit anfangen sollte – aber wenigstens ist das Buch nicht besonders dick. Die auf dem Cover abgedruckten euphorischen Rezensionen reichten vom nichtssagenden „erschütternd, brillant, bewegend!“ (The Observer) bis zur

mal wieder beschworenen „neuen Stimme der zeitgenössischen russischen Literatur“ (World Literature today). Wieder andere sahen Parallelen zu Kafka, und Platonow – mein Freund – schien vorläufig der einzige, der Parallelen zu „Sex and the City“ erkennen konnte. Und ich denke, er wird mit diesem Urteil auch allein bleiben, denn Buidas Erzählung um einen mysteriösen, Nacht für Nacht um Schlag null Uhr durch ein sibirisches Dorf bretternden Zug ist alles andere als heiterer Stoff. Zwar ist der Protagonist Don Domino kein Kind von Traurigkeit und zerstört beim Akt schon einmal das komplette Bett, doch ist es schließlich seine Eifersucht und der daraus resultierende Mord, der vor dem Hintergrund der untergehenden Sowjetrepublik eine wahrhaft russische Tragödie auslöst.

Buidas Leistung besteht für mich vor allem darin, auf knapp 120 Seiten eine Liebesgeschichte, eine Geistergeschichte, einen Kriminalroman, eine Groteske und ein Gesellschaftsporträt verfasst zu haben, ohne eines der Genres zu überfrachten. Auch sprachlich ist die Novelle eine wahre Freude – zu beneiden, wer sie im Original lesen kann.

Und wenn ich persönlich den Roman auch nicht den Fans von Bushnell und Konsorten empfehlen möchte, rate ich doch all jenen zum Kauf, die eine neue Facette der russischen Literatur kennenlernen wollen. Es lohnt sich!

Ihre
Joan Weng

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