Jürgen entwickelt Figuren: Schlenderman und mein Ich-Erzähler

An unserem Haus läuft jeden Tag ein Mann aus dem betreuten Wohnen vorbei. „Läuft“ ist noch nicht das treffende Wort, er balanciert auf der Linie zwischen Rad- und Fußweg, lebt in einer Welt für sich und hält dabei eine Zigarette mit nach außen abgeknicktem Handgelenk, wie soll ich sagen, ungefähr so, wie Freddy Quinton beim 90. Geburtstag sein Kellnertuch nach der dritten Trinkrunde. Der einzige Unterschied ist, dass er über einen Hundehaufen niemals einen Hüpfer machen würde. Er würde vielmehr einen eleganten Bogen um das Hindernis schlagen, ohne dieses aus dem Fokus seiner Augen zu lassen oder seine Schrittgeschwindigkeit zu beschleunigen. Ja, wenn er so mit geschürzten Lippen an seiner Zigarette saugt, ist er geradezu ein Muster und Sinnbild der Entschleunigung – inmitten unserer sonst so überdrehten und sich überschlagenden Welt.

Worauf ich hinauswill: Bei diesem Mann hat man nicht unbedingt den Eindruck, dass er mit einem über Brexit oder Klimawandel diskutieren wollte. Oder vielleicht doch? Jedenfalls, ich habe nie erlebt, dass unser Schlenderman, wie er familienintern heißt, jemals bezüglich der Witterung unpassend gekleidet wäre. Obwohl er von frühmorgens bis spätabends durch unsere Stadt schlendert, hat er aus einer gewissen Alltagsklugheit heraus jederzeit die wetterangemessene Klamotte parat. Halb im Scherz hat Evi, meine Frau, mal gefragt: „Muss ich heute einen Schal umbinden? Hast du Schlenderman schon gesehen?“

– Vielleicht hat er von Klimawandel und Trump auch nie was gehört –, aber gegen die Auswirkungen des Klimas ist er in jedem Fall gewappnet. Ich sagte noch zu Evi: „Irgendwie beneide ich Schlenderman. Schlendert den lieben langen Tag durch die Gegend und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein.“

„Wo du gerade davon sprichst“, so sie, „dann schlender mal zum Penny runter, wir brauchen noch Waschpulver und Haushaltstücher.“

Ich erinnere mich noch, als wäre es heute: Auf dem Weg zum Penny wagte ich nicht wirklich, auf der Linie zwischen Rad- und Fußweg zu balancieren. Aber ich tat es Schlenderman im Geiste gleich, was auch weniger auffällt und keinen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr darstellt. Da kam mir die Erleuchtung: In diesem Schneckentempo müsste ich mal erzählen. Mein Erzähler müsste die Haltung eines Schlendermans einnehmen, der wie mit 90 Jahren, nicht mit 90 Sachen, durch die Gegend schlendert, seine Zigarette schmökt und dabei seine ganz individuellen und nicht verallgemeinerbaren Erfahrungen macht. Wow! Evi noch: „Aber wenn du nach Rauch stinkst, kannst du draußen übernachten.“

So fing ich an, meine Geschichten aus der Sicht eines schlendernden und rauchfreien Ich-Erzählers zu erzählen. Hier in diesen Blog-Hallen hat übrigens der erste meiner Schlendergänge das Licht des Monitors erblickt: Im Schlendergang zu Lessings Grab.

Heute grüße ich Schlenderman, wenn ich ihm auf der Straße begegne. Er hebt die Augenbrauen, dann nickt er und führt die Zigarette mit elegantem Schwung zum Mund. That’s it! Und dann kann ich nicht anders und schlender schon in der nächsten Geschichte.

Ihr Jürgen Block

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