Jürgen liest: Bertolt Brecht – Der kaukasische Kreidekreis

Für die Ungeduldigen die Empfehlung gleich vorweg: Die Handlung um die Magd und Kindesentführerin Grusche und den korrupten Richter Azdak ist aufregend und spannend. Wenn man sich für Brechts Theater und die Fragen der Gegenwart nicht weiter interessiert und sich nicht stören und verstören lassen will, dann überschlägt man am besten den ersten Akt und steigt gleich in die sich überstürzende Handlung des zweiten Aktes ein.

Im ersten Akt setzt nämlich die Rahmenhandlung ein. Sie spielt in der Sowjetrepublik Georgien, nachdem die deutschen Truppen von der Roten Armee besiegt und vertrieben waren. Das Land ist zerstört und muss wiederaufgebaut werden. Dabei streiten sich zwei Kolchosen darum, welche von beiden ein bestimmtes Tal zugesprochen bekommt. Es geht hier um eine Frage der ökonomischen Vernunft, die die beiden Kolchosen untereinander ohne fremde Einmischung von außen entscheiden sollen. Es soll sich hier nicht das Recht des Stärkeren durchsetzen, sondern die Einsicht. Nun ist es aber so, dass gerade die sinnvollste und vernünftigste Lösung von der Ziegenzucht-Kolchose ein großes Opfer verlangt; sie müsste die Weideplätze ihrer Ziegen aufgeben, aus deren Milch sich ein besonders guter Käse herstellen lässt. Die Obstanbau-Kolchose dagegen verfolgt ein Staudammprojekt, bei dem das ehemalige Weidetal in fruchtbares Ackerland umgewandelt werden könnte, so dass die Versorgung der hungernden Bevölkerung gesichert wäre.

Die Ziegenbauern unterwerfen sich der ökonomischen und gesellschaftlichen Vernunft. Dies könnte das Ende des Theaterstücks sein, aber bei Brecht ist es nur das Vorspiel zum eigentlichen Stück. Denn die Obstbauern bestehen darauf, dass sie den Ziegenbauern, die ihr Tal hergeben müssen, ein Theaterstück vorspielen. In dieser Situation, wo Hunger und Kriegselend herrschen, beschließen die Bauern unter der Anleitung eines Sängers, Theater zu machen, das allen helfen soll, ihr Handeln in dieser Not zu reflektieren.

In den folgenden Akten geht es zum einen um die Magd Grusche, die durch Zufall das Kind des Gouverneurs übernimmt, der in den Wirren eines Bürgerkriegs abgesetzt und getötet wird. Ohne es zu wollen, wird sie zur Pflegemutter, die das Kind durch die Kriegszeiten bringt. Unter diesen unsicheren und prekären Umständen kommt es zum zweiten dazu, dass der zweifelhafte Dorfschreiber Azdak von den Panzerreitern zum Richter befördert wird und jetzt nach Lust und Laune über andere Leute richten kann. Als die richtige Mutter des verlorenen Kindes auf den Plan tritt und es für sich zurückfordert, um an sein Erbe heranzukommen, kreuzen sich die Wege von Grusche und Azdak. Da es damals noch keinen DNA-Test gab, greift Azdak auf das Salomonische Urteil mit dem Kreidekreis zurück: Das Kind steht, an Händen gehalten von beiden Frauen, in der Mitte des Kreises, und jetzt soll die Stärke der Mutterliebe entscheiden, mit der die Frauen in der Lage sind, das Kind aus dem Kreis herauszuziehen. Grusche lässt sofort los, weil sie dem Kind kein Leid zufügen will; in diesem Verhalten sieht der Azdak die wahre Mutterliebe. Er entscheidet sich somit gegen die natürliche Mutter und spricht Grusche das Kind zu. Der Zuschauer kann jetzt Azdaks Kreidekreisentscheidung in Analogie zur Entscheidung der Kolchosen in der Rahmenhandlung oder zu Entscheidungen, die bei uns gerade getroffen werden, setzen und lernen, wie es ist, wenn in barbarischen Zeiten eine vernünftige Lösung gefunden werden soll. Auf den Punkt gebracht: Am Kreidekreis kann man Weltgeschichte am eigenen Leib erfahren, nacherleben und sozusagen zur Probe schon mal vorleben.

Die beiden Hauptpersonen des Kreidekreises zählen zu den vielschichtigsten und interessantesten Personen im Werk von Bert Brecht, nicht weil sie irgendwelche hehren, überzeitlichen Ideale vertreten, sondern weil sie in ihrem alltäglichen Überlebenskampf plötzlich moralisch handeln, sobald sich eine Gelegenheit bietet. So reflektiert sich in der Grusche- und Adzdak-Handlung die Entscheidung der Kolchosen aus dem Vorspiel des ersten Aktes. Die Bauern und die Zuschauer können beim Sehen, Spielen und Lesen des Stücks erleben, was der Satz heißt: „Du musst dein Leben ändern.“ (Reiner Maria Rilke)

Brechts Schauspiel richtet sich auch und gerade an Menschen, die in aktuellen Entscheidungssituationen stehen. Durch Kunstgenuss zu Vernunft zu kommen – das ist schon ein Anspruch. Mit Kunst allein werden wir es nicht schaffen, aus unseren chaotischen Zeiten heil herauszukommen, aber ohne, das ist Brechts feste Überzeugung, eben auch nicht. Darum kann es sich heutzutage lohnen, Brechts Kaukasischen Kreidekreis wieder hervorzukramen – und ihn im Ganzen neu zu lesen.

Ihr Jürgen Block

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