Jürgen liest Comic: Christian Diaz Orejarena – Otras Rayas Andere Linien

„Otras Rayas – Andere Linien“ ist ein außergewöhnlicher Comic. In diesem Erstlingswerk erzählt der Künstler und Grafikdesigner Christian Diaz Orejarena, der in der Nähe von München aufgewachsen ist, seine deutsch-kolumbianische Geschichte. Der Erzähler reist im Rahmen eines Kunststipendiums erstmals nach Santander in Kolumbien und erfährt dort, dass noch heute die deutschen Pioniere und Kaufleute verehrt werden, die Mitte des 19. Jahrhunderts das Gebiet zwischen dem Santandergebirge und dem Magdalena-Fluss „entdeckt“ haben. Sie ließen Brücken und Wege bauen, mit denen Ureinwohner und Natur im Zuge des europäischen Kolonialismus ausgebeutet und vernichtet wurden.

Im Comic ist die Linien-Metapher zentral: Linien sind unter anderem ein Zeichen für Handelswege, Muster von Pflastersteinen, Streifen am Tiger und nach allen Seiten ausgreifenden Tentakeln, bis sie sich zu einem Gehirn zusammenwinden. So summiert sich die bloße Wort-Metapher zu einem immer gehaltvolleren bildlichen Ausdruck.

Eine weitere wichtige Metapher ist die Walking-Man-Skulptur vor einem Versicherungsgebäude in der Münchner Innenstadt. Sie soll nach Auffassung des Erzählers den „weißen Mann“ symbolisieren, der mit seinem forschen Schritt die Welt seinem Kolonialismus unterwirft. Und dann sprießen dank der stets überschäumenden Fantasie aus dieser Figur auch noch koloniale Symbole hervor: Chinin-, Tabak- und Kakaopflanzen und eine Ölquelle.

In einem Info-Kapitel und einer Anmerkung wird die besondere Bedeutung des Chinins erläutert, der damals einzig wirksamen Medizin gegen Malaria: Erst dieses Mittel ermöglichte den Europäern die dauerhafte Expansion in die weite Welt, während die kolumbianische Urbevölkerung dieser Krankheit, die die weißen Männer einschleppten, hilflos ausgeliefert war.

Die Erzählweise: In einem Strang wird die Reise des Erzählers realistisch und in Schwarzweiß abgebildet. Die Panels sind häufig wie das Steinpflaster der Handelswege rechtwinklig verfugt – so kommt allerdings die Dynamik des Erzählens nicht immer auch in der Anordnung der Panels zum Tragen. Aber die Fantasie treibt munter ihre bunten Blüten hervor. Und dann wird der Erzählfluss regelmäßig unterbrochen und vertieft durch ganz- oder doppelseitige, teilweise kolorierte Überblickspanels, Infotafeln, Fußnoten oder auch mehrseitige Exkurse. Also der Comic kann, wie jede gute Aufklärung, prodesse et delectare, nützen und erfreuen.

Am Schluss wird die Geschichte in einem Satz und zwei Versen zusammengefasst: „Du zerhaust die Welt / und baust sie wieder neu.“ Immer wieder meldet sich der Erzähler mit dem Du, das er an den Leser und an sich selbst richtet. Dies ist ein Vorzug des Comics, denn in der Prosa wirkt die Du-Perspektive häufig umständlich und unbeholfen. So zerlegt der comische Erzähler die Welt des Kolonialismus in ihre Einzelteile, damit aus den Trümmern eine neue befreite Welt entstehen kann.

Der ganze Comic ist im Grunde die Selbstreflexion eines Künstlers aus Europa. Aber der Erzähler misstraut seinem Denken, das von außen manipuliert sein könnte. Er verweist in einer Anmerkung auf die Instrumente der Massenpsychologie zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung. So droht er, ständig den Steinboden der Selbstgewissheit unter den Füßen zu verlieren.

Kein Wunder, dass er mitunter die Fassung verliert, außer sich gerät und einen Gesang anstimmt, der aus den Brocken verschiedener Sprachen zusammenfließt und das unaussprechlich Neue auszusprechen versucht. „Da grollt er, zischt er, läuft, fließt und brüllt / in das graue Lärmen den neuen Gesang: / Hiddy shiddy historius, Nada de optimismo!“

Dieses Zusammenspiel von Grafik und poetischer Sprache, die sich gegenseitig zu immer neuen Höhen des Ausdrucks aufschwingen, ist ein ganz besonderes Herausstellungsmerkmal dieses Comics.

Aber der heimliche Star ist und bleibt die Marimonda-Figur, deren Karnevalsmaske die afrokolumbianische Bevölkerung einst erfunden hatte. Sie fordert die Autorität der weißen Oberschicht heraus mit ihrem riesigen Nasen-Pimmel. Sogleich bekommt Marimonda die Ehre eines Exkurses, darf den deutschen Kolonialismus erklären, aber dann wird sie von einem deutschen Gonorrhö-Typen erschossen.

Schade nur, dass der Erzähler die Vorlage dieser genialen Marimonda-Maske nicht aufnimmt und zur Hauptfigur macht. Vielleicht wollte der Autor keine kulturelle Errungenschaft der unterdrückten Bevölkerung stehlen und wie ein weißer Mann für die eigene Karriere ausnutzen.

Vielleicht liegt hier auch nur ein philosophisches Missverständnis vor. Der Erzähler will die otras Rayas der neuen Welt mit einem einmaligen Gewaltakt durchgesetzt sehen. Aber das Neue entsteht nicht aus einer Tabula rasa, sondern wächst im Alten schon heran. Das Alte, in dem wir leben, trägt das Neue schon in sich, wie das Marimonda-Gesicht, das für alle, welcher Farbe und Gesinnung auch immer, ein Vor-Bild der befreiten Zukunft sein kann.

Also, wieso sollte man sich diesen Comic zulegen? Weil er abstrakte Vorgänge sinnlich vorstellbar und Lust auf mehr macht, auf Leben und Veränderung in einer allzu alten, gewalttätigen Welt.

Und auch ich habe Lust bekommen auf eine Fortsetzung der „Otras Rayas“ mit einer entfesselten Marimonda-Figur.

Ihr Jürgen Block

„Der Autor bei der Vorbereitung der Comicpräsentation. Marimonda hat alles im Blick.“
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