Jürgen liest: Gerhard Augst – Der Bildungswortschatz

„Formen sind kein leerer Wahn.“ Dieser Satz ist ein Running Gag in dem Roman Der Untertan von Heinrich Mann. Dabei soll der Untertan Diederich Hessling lernen, dass er auch ohne Grips im Kopf ganz oben auf der sozialen Stufenleiter stehen darf, wenn er gewisse bürgerliche Umgangsformen einhält, zum Beispiel, wenn er eine Frau als ehrlos und verdorben beschimpft, die er selbst geschwängert hat. So charakterisieren sich die Figuren durch ihr eigenes Gerede als scheinheilig und im wahrsten Sinne wahn-sinnig, sodass der Satz am Ende wieder wahr wird: Selbst die verlogensten Ausdrucksformen sprechen immer auch eine Wahrheit über die Person aus, die sie benutzt.

Wenn man als Autor eine Person charakterisieren will, dann sind also nicht nur Verhalten, Aussehen, Marotten und Ticks der Person wichtig, sondern auch und vor allem ihre Sprache. Und wenn die Person ein Akademiker ist, dann könnte man ihn wunderbar anhand seines Bildungswortschatzes dingfest machen.

Bildungssprache ist, laut dem Buch Der Bildungswortschatz von Gerhard Augst, eine zwischen Alltags- und Wissenschaftssprache angesiedelte Sprache, mit der sich gebildete Laien mehr oder weniger systematisch in einer komplexen Welt orientieren und ihre gesellschaftlichen Ansprüche durchsetzen.

Das Interessante ist nun, dass Bildungssprache nicht einfach nur hochfliegendes Geschwätz ist, mit dem man sich von der Masse der anderen Sprecher unterscheidet und abhebt (dies wäre der Beziehungsaspekt der Sprache), sondern sie bietet wirkliches Weltwissen (Inhaltsaspekt der Sprache). Das kommt daher, dass die Wörter der Bildungssprache zum großen Teil aus den Wissenschaften stammen.

Erstens übernimmt die Bildungssprache die Originalbegriffe aus den Wissenschaften, ohne deren Bedeutung zu verändern. Zum Beispiel „Hypothese“, das sowohl wissenschaftlich als auch bildungssprachlich „eine begründete wissenschaftliche Vermutung“ bedeutet.

Aber daneben gibt es eine zweite, meines Erachtens viel bedeutungsvollere Weise, wie wissenschaftliche Begriffe in den Bildungswortschatz gelangen: indem sie eine neue, bildhafte Bedeutung erhalten. Beispiele: Schwarzes Loch, linear, DNA. Diese Worte sind in den jeweiligen Wissenschaften Fachbegriffe mit mehr oder weniger exakt umrissener Bedeutung. Aber wir Laien können mit ihnen umgehen und uns verständlich machen, ohne vorher die Wissenschaften studiert zu haben, eben weil wir sie bildungssprachlich als Metaphern gebrauchen.

Ich kann sagen: Mein Gedächtnis oder die Handtasche meiner Frau ist manchmal ein „Schwarzes Loch“, unser gemeinsames Leben verläuft selten „linear“, sondern häufig voller Kurven und mit unklarem Ziel, und auch der Umgang mit dem Smartphone ist in unsere „DNA“ eingegangen. Nur aus Sicht der Wissenschaftssprache werden diese Begriffe hier falsch benutzt und ergeben keinen Sinn. Aber die Begriffe durchlaufen einen Wandel, sobald sie bildungssprachlich gebraucht werden. Sie werden zu mehrdeutigen Metaphern, mit denen wir für uns wichtige Lebensverhältnisse und Sachverhalte umschreiben. Auch und gerade ohne Physikstudium verstehen wir unter „Schwarzes Loch“ einen rätselhaften Abgrund, an dessen Rand unser Leben oft genug tänzelt und abzustürzen droht.

Hier zeigt sich, wie bildhaft oder, ja, poetisch unsere Sprache im Alltag noch ist. Und darüber hinaus: Unsere Bildungssprache greift wie selbstverständlich auf Begriffe der modernsten wissenschaftlichen Theorien zurück, um Orientierungspunkte für unser Leben zu geben: Urknall, Komplexität, Unterbewusstsein etc. Das sind solche bildungssprachlichen Wortknaller, mit denen wir anfangen, sozusagen spontan über die Grundfragen des Menschseins zu philosophieren.

Hinzu kommt, dass auch die Bildungssprache sich in den letzten fünfzig Jahren grundlegend gewandelt hat.

Die klassische Bildungssprache schöpfte ihre Worte aus den alten Sprachen Griechisch und Latein, aus Religion, Geschichte, Philosophie etc. Vermittler war noch das alte humanistische Gymnasium, das in den 70er-Jahren von den mehr mathematisch-naturwissenschaftlich und fremdsprachlich ausgerichteten Gymnasien abgelöst wurde. Die moderne Bildungssprache dagegen wird vor allem von Wörtern aus Natur- und Ingenieurswissenschaften, Soziologie etc. bestimmt. So kann man schon an der Wortwahl das Alter eines Akademikers erkennen.

In dem Buch von Gerhard Augst findet man entsprechende Wortverzeichnisse. Akademiker älteren Semesters würden folgende klassische Bildungsworte bevorzugen: Prokrustesbett, Skylla und Charybdis, prometheisch, Philippika, Ockhams Rasiermesser, Haupt und Glieder, faustisch, Ceterum censeo, Sophist etc. Jüngere Akademiker dagegen eher diese Bildungsworte: Quantensprung, Lackmustest, Katalysator, Symbiose, Quadratur des Kreises, Schnittmenge, tangieren, Diagnose, Screening, Alleinstellungsmerkmal, Supergau, Profitmaximierung etc.

Diese Wörter werden natürlich auch in der Alltagssprache genutzt, wenn es um die Bewältigung des Alltags geht und nicht um Orientierung in der großen Welt. In dieser Richtung funktioniert das, aber nicht umgekehrt, allein mit der Alltagssprache oder gar der einfachen Sprache kann man die Fragen der Menschheit, das heißt: Fragen, die alle Menschen angehen, nicht behandeln, weil eben die Metaphern für die erfahrungsüberschreitenden Gedanken fehlen.

Ein weiterer Punkt. Leider ist es so, dass die moderne Bildungssprache nicht mehr wie früher die klassische in Schule und Universität systematisch gelehrt wird. Deshalb müssen die jungen Leute heutzutage selber aktiv werden und sich selber darum kümmern, die Bildungssprache zu erlernen. Das kann der Autor bei der Gestaltung junger Personen ausnutzen, indem er sie eine Art Missingsch aus Bildungs- und Alltagssprache sprechen lässt.

Zusammengefasst: So zeigt sich, dass Sprachformen tatsächlich alles andere als ein leerer Wahn sind. Und umgekehrt gilt: Auch der Wahn ist keine leere Form.

Ihr

Jürgen Block

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