Jürgen liest: Rachel Ingalls – Mrs. Calibans Geheimnis

Dorothy ist, genau wie ihr Mann Fred, „zu unglücklich, um (sich) scheiden zu lassen“. Kein Wunder, ihr gemeinsamer Sohn ist an einer „ganz normalen Betäubungsspritze“ gestorben, und ein paar Monate später verloren sie auch das Baby. So viel Unglück kann ein einzelner vielleicht tragen, aber kein Ehepaar. So finden beide nur noch Halt in der Fassade eines gutbürgerlichen und wohlanständigen Lebens. Und dann kommt die Wende. Während Fred sich auf junge Werbemädchen einlässt, bemerkt Dorothy eines Tages, dass das Radio mit ihr zu sprechen beginnt. Das geschieht im laufenden Programm, wo sich der Sprecher plötzlich direkt an sie wendet und sagt: „Mach dir keine Sorgen, Dorothy, du wirst ein weiteres Baby bekommen.“ Sie wundert sich zuerst gar nicht groß darüber, schließlich ist das ein sehr altes Radio. Aber dann meldet sich das Radio mit einer Sonderdurchsage, bei der sie nicht mehr entscheiden kann, ob es eine dieser seltsamen nur an sie gerichteten Botschaften ist oder eine öffentliche. Darin wird die Bevölkerung vor einem riesigen echsenartigen Tier gewarnt, das aus dem benachbarten Institut für Ozeanografie entflohen sei, nachdem es zwei Angestellte grauenvoll verstümmelt hat.

Wie befinden uns am Anfang des wunderbaren Romans Mrs. Calibans Geheimnis von Rachel Ingalls und ahnen schon, dass sich die Wege von Dorothy und diesem Wesen, das die Boulevard-Presse „Aquarius, der Monstermann“ getauft hat, gleich kreuzen werden. Es herrscht eine Art erzählerisches Halbdunkel, in dem wir kaum zwischen wirklicher und er(alb)träumter Welt unterscheiden können. Aber Rachel Ingalls wäre keine große Erzählerin, wenn sie aus diesem nur scheinbaren Horrorszenario nicht eine wunderbar zarte und zugleich lebenspralle Liebesgeschichte hervorzaubern könnte. Und so beginnt auch der Roman, uns Leser mit einer geheimnisvollen Stimme anzusprechen.

Wie gelingt der Autorin der glückliche Fortgang der Geschichte? Wie in allen großen Romanen mithilfe eines Zufalls – oder eher eines Missgriffs.

Als das Froschwesen plötzlich in ihrer Küche steht, tastet Dorothy hinter dem Rücken nach ihrem Lieblingsmesser, „das wie ein Rasierblatt alles durchtrennen würde, was sich ihm entgegenstellte“. Doch statt des Messers bekommt sie  die Stangensellerie zu fassen und streckt dann dem Eindringling drohend das Gemüse entgegen. Was geschieht? Der Monstermann nimmt die Sellerie und beißt rein. Liebe geht durch den Magen, heißt es, und dieser Roman gibt eine in sich schlüssige Kostprobe davon. Wie es weiter und vor allem ausgeht mit Larry, so heißt der potente Froschmann mit richtigem Namen, wird an dieser Stelle nicht verraten. Die glücklichsten Leseerlebnisse sind schließlich die selbst gemachten.

Nur so viel: Mrs. Calibans Geheimnis ist der Kurzroman einer großen Autorin, die bei uns leider viel zu wenig bekannt ist. Der Roman, 1982 erstmals erschienen, wurde 2018 bei Wagenbach wiederaufgelegt.

Ihr Jürgen Block

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