Jürgens Frühling

Der Frühling ist schon schön. Aber er hat halt seine Macken.

1) Er ist, wie er klingt: Früh–ling (spätmhd. vrüelinc), da hört man schon die Liebe in Blume, Strauch und Vogel aufgehen. Wie entfesselt beginnen Säfte und Bäche zu drängen und machen die Welt wieder bunt. Einige Nachbarn helfen auch mit Plasteeiern nach.

2) „Du musst den Ahorn absäbeln, der wächst uns noch übern Kopf!“ (Soraya)

„Ich warte noch ein Jahr, dann gibt’s mehr Feuerholz.“ (Ich)

3) Zum Frisör können wir mittlerweile auch wieder, lassen uns von der Matte befreien. Mit neuer Frise fühlt man sich wie ein neuer Mensch.

4) Oje, der Garten! Bald ist wieder Rasenmähen dran, aber das Moos! Soraya wollte immer einen Vertikutierer kaufen, aber so was kommt mir nicht in den Vorgarten. Ich habe eine Harke, mit der man so speziell das Moos rausrupft und den Halm stehen lässt. Nebeneffekt: Man lernt ganz neue Muskelseiten an sich kennen.

Ein bisschen unheimlich ist das Wandeln auf der Grasnarbe schon, wenn wir das Moos in Säcken wegschleppen und unter uns die Erde bebt. Ich stampfe auf und prompt zeigen sich Regenwurmhaufen und die ersten Krokusse.

5) Wenn nicht gerade Corona ist, fahren wir Herbst und Frühjahr zur Waldarbeit nach Mecklenburg. Stiefeln mit Spaten und Schubkarre in die Kiefernmonokultur und forsten einen Mischwald auf. Statt das Klima oder zumindest die Menschheit zu retten, stehen wir jetzt im Moos. Indes trampeln im Wald Damwild und Schwarzkittel unsere Setzlinge platt.

6) Man traut sich auch wieder ohne Mütze aus dem Haus und gewöhnt sich immer neue Gewohnheiten an. Zum Beispiel fahren wir jetzt regelmäßig an der Bücherzelle vorbei, einem öffentlichen Bücherregal in einer Telefonzelle. Das ist echt retro, wenn hinter einem die Tür in den Rücken fällt und man plötzlich in der Stille steht, ganz allein mit sich. Am liebsten würde ich gleich zum Telefonhörer greifen und Leute von früher anrufen, aber dann klopft meistens schon jemand an die Scheibe (Soraya) und will sich auch ein Buch aussuchen.

Wie das Leben ist auch die Benutzung der Bücherzelle ein stetes Geben und Nehmen. Interessant, auf was für Bücher man gestoßen wird und welche Bücher an einem Anstoß nehmen. Zum einen der Geschichtenband des „Werkkreises Literatur der Arbeitswelt“ (1979), in dem der Schüler Klaus-Peter Wolf eine Veröffentlichung hat. Oder Romane aus der SF-Reihe des Heyne-Verlages. Da steht neben Kinderback- und Feng-Shui-Buch das von vielen als Meisterwerk gepriesene „Schafe blicken auf“ von John Brunner, übrigens einem Vielschreiber, der trotz Hunderter Veröffentlichungen nie reich geworden ist. So passt er gut in unsere Runde der Büchertauscher.

Kurz: Wir stellen Bücher rein, wir holen welche raus, bis unsere Fantasie erblüht (eben Frühling), und irgendwie scheint eine geheime Kommunikation zwischen den fremden anderen und uns abzugehen, indem wir durch die Zelle gegenseitig die Bücher abstauben.

Okay, mir ist klar, dass Bücherrecycling doof und autorenfeindlich ist, ich schneide mir ins eigene Fleisch, autsch! Andererseits sind die intertextuellen Vibes aber auch geil (mhd., ahd. geil = kraftvoll; üppig; lustig, eigtl. = gärend, aufschäumend). Geständnis: Es sind vor allem Sorayas Bücher, die wir einstellen, ich kann mich ja von nichts trennen.

7) Gehört auch zum Frühling: Am 15. Juni 1940 marschiert die deutsche Wehrmacht in Paris ein. (Siehe Jean-Paul Sartres Roman: „Der Pfahl im Fleische“.) Auch Wahnsinn, wie Sartres Philosophie der Freiheit in deutscher Kriegsgefangenschaft (Trier, Geburtsort von Karl Marx) ihre Feuerprobe erhielt. Danke für die Erinnerung, liebe Zelle!

8) Noch mal zum Wort „anstoßen“. Ebenso wie der Frühling die Produktion unserer Lebenssäfte anstößt, empfangen wir Anstöße von anstößigen Büchern. Ganz wörtlich: Buch stößt mit Wumms auf Schädel und überwummst seine Energie. So entsteht beim Lesen der Energiefluss zwischen schwarzen Buchstaben und grauen Zellen, bis durch Stoßionisation die Zündfunken nur so sprühen, wie jetzt hier bitte auch!

9) So, jetzt aber genug, ich klopf mir Moos und Erde von der Hose, schnapp mir die Soraya und ab an den Deich. Aber vorher noch ein Stopp an der Bücherzelle.

Ihr Jürgen Block

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