Rainer Maria Rilke: Herbsttag
Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Menschenleere Gegend. Otto Lilienthal soll hier mal gewesen sein, um Störche beim Fliegen zu beobachten. Kein Corona weit und breit, auch keine Störche, dafür um so mehr Kraniche. Und überall nur schmale Straßen, nicht viel mehr als Wirtschaftswege, auf denen Einheimische mit ihren Pickup-Trucks längsbrettern. Unter einem Himmelsrund, das durch keine Hügel oder gar Berge verunstaltet ist: Die Ostprignitz. Hier machen wir Urlaub.
Herbst ist die schönste Jahreszeit, wenn der Sommer vorher groß genug war, finden Soraya und ich. Wir sind in einem Vier-Seiten-Hof untergekommen, ehemaliger Schweinestall, in einem der typisch brandenburgischen Straßendörfer, den die Eigentümerin nach Flucht und Rückgabe wieder schick in Stand gesetzt hat. Ihre Mutter floh 1956 in den Westen, weil sie nicht in die LPG und bei den anderen auf dem Feld arbeiten wollte. Von hier aus erkunden wir die Welt nach dem ganzen Lockdownschlamassel.
Dieser Herbst ist besonders schön, weil wir endlich wieder, wenn auch mit Maske, mit Land und Leuten in Kontakt treten können. Am Abend lesen wir in unseren Touristenführern und schreiben Emails. Gestern waren wir in Wittstock, beim Denkmal 1636, wo eine der heftigsten Schlachten des Dreißigjährigen Krieges stattfand. Der Wind war losgelassen und zog über die abgestoppelten Maisfelder, das ehemalige Schlachtfeld. Dort hatte man ein Grab mit 125 Soldaten gefunden, von den insgesamt 6000 Gefallenen der Schlacht. Der Museumskatalog sagt „Gestorbene“ – wieso nicht „Getötete“? Anhand der Einschläge in den Knochen kann man erkennen, wie sie in der Schlacht zerhieben, zerstoßen und zerhackt wurden.
Das ist der Herbst, die letzten Früchte werden voll und reif und fallen auf den Boden. Aber die Walnuss auf dem Hof hat einen Pilz, der die Nüsse an den Ästen verdorren und schwarz werden lässt. Die Skelette der Toten sagen uns auch was vom Leben im 17. Jahrhundert. Mangelernährung und schwere Arbeit haben ihre Spuren in Zahnschmelz und Knochenhaut hinterlassen. Arthrose schon bei Zwanzigjährigen.
Die größte Überraschung: In der schwedischen Armee (die die Schlacht überraschend gegen die Kaiserlichen und Sachsen gewann und dafür sorgte, dass man hier protestantisch blieb, beziehungsweise der Krieg mit Hilfe Frankreichs noch zwölf Jahre weiterging) waren ein Drittel Schotten, wie man an der DNA ablesen konnte. Die waren von ihren Clanchefs aufs Festland geschickt worden, für die Stuarts, gegen die Engländer oder so. Jetzt liegen sie hier, fein säuberlich in ein Massengrab geschichtet, ausgeplündert bis auf die Knochen. Wie Oma (zwei Weltkriege) immer sagte: Das letzte Hemd hat keine Taschen. An Individuum 71, einem ca. 21 bis 24 Jahre alten schottischen Söldner, hat man eine forensische Gesichtsrekonstruktion vorgenommen. Das ist Geschichte von unten, der kleine Mann bekommt ein Gesicht.
Ja, die süße Herbsteszeit, wo wir alle zur Vollendung hindrängen. Wir jedenfalls besichtigten anschließend noch die Stadtmauer Wittstocks, wo die letzte LaGa wunderschöne Spazierwege hinterlassen hat. „Landesgartenschau“, wie uns der freundliche Herr mit den zwei Krücken („Die Knie. Aber im Kopf noch alles einwandfrei!“) erklärte. Und dann noch viel mehr, er war nicht mehr zu stoppen, wie er fürs Fernsehen mit einem originalgetreuen Nachbau einer Radschlosspistole aus dem Dreißigjährigen Krieg in die Stadtmauer schoss. „Wir hatten kleinere Kugeln mit Klopapier umwickelt, da ist dann die ganze Energie drin hängengeblieben. Völlig gefahrlos.“ Das Problem war nur, die Pistole nach dem Abbrennen des Schwarzpulvers wieder sauber zu kriegen. Als der Herr fortfuhr, dass die Deutschen im Zweiten Weltkrieg einen geheimen Stützpunkt in der Antarktis errichteten, den sie mit U-Booten ansteuerten, deren Walter-Motor mit deutscher Ingenieurskunst und tibetanischer Esoterik angetrieben wurde, und von wo aus sie 1944 mit Ufos den Mars eroberten – verabschiedeten wir uns von dem Früchtchen und ließen uns noch wie Blätter durch die wundervollen Alleen der LaGa Wittstock treiben. Herrlich! Das soll’s fürs erste gewesen sein, jetzt noch einen schönen Wein und zurück ins gemachte Nest vom Schweinestall.
Das war unser erster Tag.
Ihr
Jürgen Block