Jürgens Sommer (2)

Den letzten Sommer habe ich im Schwimmbad verbracht. Das heißt, wann immer ich aus meinem Renovierungskeller rauskam. Das gelockerte Deutschland nach der Schockstarre hat es möglich gemacht. Nur die Schnellsten kommen ins Bad, deshalb saß ich mitternachts vor dem PC, um per Online-Registrierung einen von den 42 Schwimmplätzen zu ergattern.

Ich also mindestens drei Mal in der Woche hin. Abgesperrte Bahnen, ein paar verlorene Peoples und immer im Kreis. Egal, genug Platz für Brust, Rücken und andere Spezialitäten. Und man konnte wahrlich einiges erleben:

  • Damen, die mit Auftriebshilfen durchs tiefe Wasser schritten und die ganze Zeit, ohne aus der Puste zu kommen, schwatzten;
  • Andere, die mit Flossen an Händen und Füßen mehr oder weniger erfolgreich versuchten, der Evolution nachzuhelfen;
  • Auch die, die sich von der Toilette, ohne die Hände zu waschen, direkt ins Becken stürzten (okay, das Wasser ist gechlort);
  • Jene Damen, die vom Kopf her stanken, weil ihre Haarsprayfrisur ein Gemisch mit den Chlordämpfen einging (Gott, wenn die jetzt auch noch rauchen würden!);
  • Und natürlich die üblichen Verdächtigen vom Sport-Leistungskurs, die einen wackeren Schwimmer schon mal 57 Jahre alt aussehen lassen konnten, die Arschlöcher!

Letztere schwammen wirklich verdammt elegant, musste man neidlos anerkennen. Ich lugte unter die Wasseroberfläche: Wow, was für ein Brustbeinschlag, die Beine zum Po angezogen, komisch verdreht und dann mit Schmackes zurückgeschnellt. Toll, und ich paddelte hier noch rum wie ein Frosch im Milcheimer. Später habe ich den Beinschlag bei You-Tube recherchiert und fleißig auf dem Trockenen und auf Bahn 1 geübt. Jetzt trete ich auch immer in einer explosiven Bewegung nach hinten und durchpflüge mit Bugwelle das Bad. Wer sagt’s denn.

So ist das Leben im Wasser. Man trifft auf Tatoos, E.-Coli und bunte Badelatschen und lernt immer Neues dazu. Man zieht wie Guppys Kreise durchs Aquarium, nur dass keiner zuguckt und an die Scheibe klopft.

Ist man doch ein komisches Wesen zu Wasser. Mit untergetauchtem Kopf dreht sich die Welt schon viel langsamer. Da ist nur noch Stille und Gluckern. Man bewegt sich in Atem- und Schwerelosigkeit, Erinnerung an die Ursuppe, wo alles begann, die unendlichen Tiefen des Alls oder die klassenlose Gesellschaft. Nur nach zehn Metern Tauchstation ist es gleich wie beim Waterboarding.

Eine der schönsten Übungen: Toter Mann. Da fühlt man sich wie „die Erde vom Wasser getragen“ (Thales).

Doch sobald man den Kopf wie eine Schildkröte aus dem Wasser streckt, gehört man plötzlich zwei unterschiedlichsten Welten an: Unten die unter Druck stehenden Extremitäten, oben der japsende Kopf, weder Fisch noch Fleisch, und dazwischen der durch die spiegelnde Oberfläche gebrochene Hals.

Ähnlich ist das mit dem Lesen, wo der Kopf auch im Wolkenkuckucksheim festsitzt, während der Leib unter der Fuchtel der Schwerkraft steht und darauf wartet, auf eine Runde im Park ausgeführt zu werden. Brav, guter Leib, bist ja ein Lieber!

Wenn man aus dem Wasser steigt, fühlt man sich wie der erste Lurch und braucht erstmal eine Pommes. Und statt des Gesangs der Geister über den Wassern hört man die Eltern vom Kind, das nicht vom Startblock springen will.

Worüber ich mir manchmal den Kopf zerbreche: Wieso brennt das Element Wasser in den Augen wie Feuer?

Überhaupt die Brillen in diesem Sommer. Im Keller Schutzbrille, im Bad Schwimmbrille, im Auto Sonnenbrille, vorm Buch Lesebrille. Nur nachts bin ich brillenlos und träume verschwommen.

In den Pausen saß ich im Strandkorb, schwitzte aus und fand Zeit, einen guten Roman zu lesen: „Ende gut“ von Sibylle Berg. Überflutungen, Anschläge, Pandemien, vor nölendem Ich-Erzähler. Hat was. Darüber ein anderes Mal vielleicht mehr. Nur so kann man Dystopien vertragen, mit Strandlust und wenn die Wassertropfen von einem abperlen und die Damen im Bewegungsbecken sich mit dem Aquafittraining richtig ins Zeug legen.

Schwimmen ist wie Schreiben. Man taucht in seine Fantasiewelten ein, spielt seinen gelernten Brustbeinschlag aus und gibt sich ganz und gar dem Flow hin.

Wenn das Zeitfenster abgelaufen ist und das Infektionsgeschehen es zulässt, verpuste ich einen Moment hinter dem Drehkreuz, noch mit Maske und nassen Haaren, vollgedröhnt mit Hormonen, aber auf dem festen Boden von Mutter Erde und schau mir die verdorrte Welt an. Die besteht noch aus seltsamen Zeichen, die ich mir neu zusammenreimen muss, und dann geht’s zurück in meinen Keller.

Ihr
Jürgen Block

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