Jürgens Winter

Früher war Winter die Jahreszeit des Todes, siehe Schuberts „Winterreise“ oder die „Klosterruine“ von Caspar David Friedrich. Und heute? Wenn ich von der Arbeit heimkomme, sitze ich zwischen meinen vier Wänden und lasse die fünfte langsam auf den Kopf fallen. Abwechslung: höchstens das bisschen Haushalt, Spaziergänge mit der Liebsten und Shoppen bei Lidl. Als ich letztens graue Bodenfarbe bei Hornbach kaufen wollte, sollte ich mich auf einen nummerierten Parkplatz stellen und die Verkäuferin mit dem Handy anrufen. Das war schon mal was, aber richtig spannend ist anders. Wie zum Beispiel die Solo-Weltumsegelung „Vendée Globe“, wo unser Boris Herrmann mit Loch im Bauch und Höhenangst auf den Mast (29 Meter plus Seegang) klettern musste, um sein Segel zu flicken. Das hätte einen 42er-Blog-Beitrag abgegeben! Wen interessiert‘s dagegen schon, wenn man vor Hornbach steht, die Verkäuferin anrufen will und der Akku schlappmacht?

Aber genauso war mein Winter bis jetzt. Selbst die Eisbären langweilen sich im Zoo, sodass die Tierpfleger sie bespaßen müssen und rumhopsen wie die Kinder, die dieser Tage alle beim Homeschooling sind. Ehrlich gesagt, halte ich mich nur noch mit Netflix und Nescafé über Wasser. Morgens Arbeit, nachmittags High Five:

Ich: „Drehen wir noch eine Runde, Schatz?“

Soraya: „Klar, heute am Glascontainer vorbei.“

I: „Geil, aber ich werfe das Grün- und Braunglas ein!“

S: „Ich habe schon vorsortiert.“

I: „Bist ein Schatz.“

S: „Und danach zum Lidl.“

Das muss ich schon sagen, draußen herrschen Minusgrade, aber beziehungstechnisch ist bei uns alles top, zweiter Frühling sozusagen. Das führt mich zu Marc Aurel, purer Zufall, beim Staubsaugen ist er mir aus dem Regal gefallen, S. 50:

„Siehst du nicht die Blümlein, die Vöglein, die Ameisen, die Spinnen, die Bienen, wie sie ihre Arbeit tun und den Kosmos mit aufbauen?“

Auch wenn gerade kein Bienlein rumfliegt, so kann man sich doch mit etwas Fantasie vorstellen, wie alles ineinandergreift und man selber fleißig mitschafft am Aufbauwerk des Kosmos. Auch in diesem Winter, wo man froh sein kann, wenn man Arbeit hat oder zumindest einen Käfig mit Pflegern, die einen entertainen.

Jetzt hätte ich gern was aus Goethes „Farbenlehre“ gebracht, aber dann lacht mich wieder jemand aus, von wegen, Goethe entspricht nicht dem Stand der modernen Wissenschaft, lalala. Stimmt. Aber die „Farbenlehre“ entspricht dem Stand der Humanität, so!, aber darüber vielleicht mehr im Frühling, wenn rot und blaue Blumen blühen.

Ich bin bei Hornbach noch was geworden, ich habe die Mitarbeiterin einfach vom Auto aus abgepasst, als sie einen anderen Kunden mit funktionierendem Handy bediente. Und sie hat für mich eine Ausnahme gemacht. Danke!

Ich springe mal. Wieso in Gottes Namen ist alle Welt so versessen auf die Farbe Weiß? Weiße Wände, weiße Zähne, weiße Weihnacht? Weiß denn keiner, wie bescheuert das ist und die Natur versaut? Wir leben ganz in Weiß, als wenn wir Teil von einem Gemälde oder einem Lied aus der Romantik wären. Übrigens, habe ich nachgeschlagen: „Weiß“ heißt im Real Life Titanoxid und kommt aus einer Fabrik mit langem Schornstein.

I: „Schatz, drehen wir noch eine Runde?“

S: „Klar, heute Postagentur.“

I: „Geil, ich kauf mir die neue ‚Guitar‘.“

S: „Und danach stellen wir uns beim Bäcker an.“

Das ist der Sound unseres Winters 20/21, ohne viel Weiß und Weltumsegelung, dafür mit fett Spaß, Brötchen und Bodenfarbe!

Ihr Jürgen Block

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