Krimiklassiker: Thomas Andresen – Der Schrei

Cilli Beilken ist hübsch, blond, braunäugig und gerade erst Zwanzig geworden. Kein Wunder, dass sich Männer um sie scharen. Allerdings – man kommt leicht ums Leben, wenn man zu dicht an Cilli herankommt. Einer fällt bei einem Ausflug eine Steilwand herunter, einer verunglückt bei den Proben zu einem Autorennen auf der nassen und glitschigen Fahrbahn, und einer, nun ja, der ertrinkt im Meer, vermutlich, weil er nicht gut schwimmen kann. Kriminalkommissar Soerensen sind das aber der Zufälle zu viele. Offiziell diesen Vorfällen nachgehen darf er nicht, weil sein Chef mit Baurat Beilken, Cillis Vater, bekannt ist und das Ermitteln streng untersagt. Also macht er sich mit der Familie bekannt und schleust seinen Freund Manfred von Schliefen ein, der Cilli umwerben soll, um Beweise dafür zu finden, dass sie die Mörderin ist. Markus verspricht Manfred, gut auf ihn aufzupassen, damit er nicht ebenfalls ein Zufallsopfer in der Flensburger Förde wird, aber ganz sicher ist sich Manfred nicht, dass Markus auch Wort halten wird, denn er hat mit dessen Frau neuerdings ein Verhältnis. Ob Markus das weiß? Um es gleich zu sagen: Es bleibt nicht bei den drei Toten. Wer aber noch das Zeitliche segnen muss, soll an dieser Stelle nicht verraten werden, denn der Roman lebt von der Spannung, die aus der Ungewissheit entsteht. Bis zu den letzten Seiten wissen die Leser nicht, ob Cilli für die Morde verantwortlich ist oder jemand anderes. Und auch wenn nach zwei Dritteln des Romans ein stiller Verdacht aufkommt, wer die heimtückischen Morde verübt haben könnte, bleiben genug Unsicherheiten, um es nicht mit Gewissheit bestimmen zu können.

Es ist eine auktoriale Erzählerstimme, die den Roman erzählt, aber sie ist nicht dominant. Diese Stimme tritt immer wieder hervor mit Andeutung, ohne aber den allwissenden Erzähler allzu deutlich hervorzukehren. Man spürt, dass er mehr weiß, als man selbst, aber er lässt die geneigte Leserschaft nicht an diesem Wissen teilhaben, sodass sich das meiste in diesem Roman wie eine personale Erzählsituation anfühlt. Man könnte es aber auch umdrehen und sagen, es ist eine personale Erzählstimme, die sich immer wieder auktoriale Anwandlungen erlaubt.

Der Roman erschien 1972 in der Reihe der roten Goldmann Taschenkrimis, und er zeichnet die Zeit um 1970 herum so gut, dass man dies heute noch nachspüren kann. Diese behäbige deutsche Art, die behaupten konnte, man sei wieder wer, auch wenn man den Krieg verloren habe, die alles Andersartige, beispielsweise die neu aufgetretenen Gammler, eliminieren will (Ludwig Erhard: „Solange ich regiere, werde ich alles tun, um dieses Unwesen zu zerstören“), kommt gerade in der Person des Bauamtleiters Beilken gut zur Geltung, der eine heile Familienwelt vorspielt, in der nichts heile ist, außer vielleicht die Fassade.

Thomas Andresen (1934–1989) war Arzt und Kriminalschriftsteller und dabei einer der Pioniere des deutschen Kriminalromans. Er schrieb nicht nur 22 Kriminalromane, die bei Goldmann, Rowohlt und Bastei-Lübbe erschienen, sondern auch 18 Kriminalhörspiele, die überwiegend vom WDR produziert, von den meisten deutschen Sendern ausgestrahlt wurden. Man bekommt seine Bücher heute nur noch antiquarisch. Sein Roman Der Schrei ist aber neuerdings als E-Book wieder verfügbar.

Ihr

Horst-Dieter Radke

Teilen: