Kristin liest: Angelika Klüssendorf – Jahre später

Das Büchlein, das das literarische Sahnestückchen meines Lesejahres 2018 war, ist sicher nicht das Richtige, wenn man „was Nettes“ lesen möchte. Es ist eckig, es ist kantig, es ist widerständig. Sprachlich ist es schlicht, klar, schnörkellos, und ich bin beim Lesen hindurchgeglitten wie schon durch die ersten beiden stark autobiografisch gefärbten Bände über das Mädchen April, das in den Siebzigerjahren unter dem vollen Programm von Alkohol und Gewalt aufwächst, zunächst bei der Mutter, später in einer DDR-Erziehungsanstalt.

Jahre später ist April um die dreißig und lebt im Westen. Aus ihren ersten, unsicher tastenden Schreibversuchen in April ist ein passabler schriftstellerischer Erfolg geworden. Nach einer Lesung lernt sie Ludwig kennen, einen berühmten Chirurgen mit ungeheurer Strahlkraft und noch ungeheurerem Ego. Insider und Kritiker haben in ihm rasch Frank Schirrmacher erkannt, jene Lichtgestalt des Journalismus, mit der Angelika Klüssendorf in den Neunzigerjahren verheiratet war.

April und Ludwig also ‒ zwei zu einem sozialen Miteinander kaum fähige Einzelgänger. Und so verwandelt sich die Beziehung und Ehe, anfangs voller Übermut und gegenseitiger Faszination, wenige Jahre später in einen unbarmherzigen Scheidungskrieg. Für mich war es bitter, mitzuerleben, wie die Geister ihrer unglückseligen Vergangenheit April hindern, in einem Leben anzukommen, das sie selbst als normal empfindet und herbeisehnt. Wie sie sich vorm Glück duckt, als ahnte oder wüsste sie, dass es nicht für sie gemacht ist, und als wollte sie sich nicht von ihm anschmieren lassen.

Ich hatte beim Lesen das Gefühl, dass beide ‒ Ludwig und April ‒ sich das Erwachsenenleben anziehen, wie Kinder sich Erwachsenenkleider anziehen. Das war aber nur eine von tausend psychologischen Schichten und Dimensionen, von denen ich mich fragte, wie sie in dieses schmale Bändchen passen. Und das ist etwas, was für mich ein gutes Buch zu einem hervorragenden macht: Dass es mich immer wieder auf gedankliche Nebengleise führt.

Kein Wohlfühlbuch, wie gesagt. Aber eins mit einer erzählerischen Sogkraft, wie ich lange keins gelesen habe. Ich empfehle es besonders denen, die die beiden Vorgängerbücher gelesen haben: Das Mädchen und April – beide gibt es als Taschenbücher, beide standen auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Falls Sie noch keinen der drei Bände gelesen haben, empfehle ich, das unbedingt nachzuholen. Immer unter der Voraussetzung, dass Sie keine Scheu vor unbequemen Lektüren haben.

Apropos unbequem: Der letzte Satz des Romans steht für mich für das Ganze. Er ist nicht schön, aber er ist genial. Er funktioniert am besten, wenn man die ersten beiden Bände kennt, und wird noch lange „mein momentaner Lieblings-letzter-Satz“ bleiben.

Ihre

Kristin Lange

PS. Wir machen mit bei der Lesechallenge #WirlesenFrauen von Schreibtrieb. Aufgabe 5: deutschsprachige Autorin.

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