Kristin liest: Feridun Zaimoglu – Die Geschichte der Frau

Zugegeben: Den neuen Roman von Feridun Zaimoglu hatte ich mir ursprünglich vorgenommen, weil der Autor Lesegast unserer Buchhandlung sein würde und ich ihn natürlich standesgemäß begrüßen und über den Stoff des Abends Bescheid wissen wollte. Zuvor war ich weiträumig um den Roman herumgeschlichen. Sagt man ihm nicht einen gehörigen Kauwiderstand nach, gilt er nicht vielen als sperrig im Abgang und im Nachgang als schwer verdaulich?

Immerhin umfasst Die Geschichte der Frau 3.500 Jahre Menschheitsgeschichte. Wie sehr wir es gewohnt sind, Geschichte aus Männersicht zu betrachten, wird mir nach dem Lesen der ersten von insgesamt zehn Kapiteln klar. Zehn Frauen sind es, denen Zaimoglu seine Stimme, oder besser: seine Stimmen, leiht und die ihr Stück Weltgeschichte aus ihrer Sicht erzählen. Als erste Zippora, die Frau des Moses. Dann Judith, Jüngerin Jesu und Frau des Judas. Tolle Stimmen sind das, das merke ich gleich. Polternd, ungestüm, unerbittlich, oft archaisch. Aber irgendetwas stimmt noch nicht. Es ist so still um mich. Plötzlich weiß ich, was fehlt: Ich möchte sie im Ohr haben, die Frauen. Ich möchte sie zetern, flüstern, schimpfen, raunen, spucken, zischen und brüllen hören. Halblaut lese ich einen Absatz. Den nächsten. Und merke: Die Kritiker haben recht. Die Geschichte der Frau ist widerständig. Sie ist sperrig und schwer verdaulich – und am schönsten, finde ich, wenn man all diese Frauen hört.

Und jetzt höre ich sie. Die junge Türkin Leyla, eine Gastarbeiterin der ersten Stunde, die, obwohl tief verhaftet in den patriarchalischen Strukturen ihrer Umgebung, sich doch aus ihnen herauszukämpfen sucht, ein quälend kleinschrittiger Prozess, wie fast alle großen gesellschaftlichen Veränderungen. Da muss jede Faser und jedes Fäserchen einzeln durchtrennt werden, um sich aus den Verknöcherungen des Althergebrachten zu lösen. Und nicht selten verkleben die Fasern so schnell wieder, wie sie zerrissen werden.

Ich höre die Stimme einer Trümmerfrau, die sich wie eine Ratte durch die Schuttlandschaft meiner Heimatstadt Kiel wühlen und beißen muss, und die das gemein macht, hart und gemein.

Ich höre die Magd Lore Lay. Ihr Statement lässt sich, modern ausgedrückt, als eigenwilliges Making-of der Loreley als Kunstgedicht lesen (in diesem Fall von Clemens Brentano). Ich befinde mich mit Lore in einem trüben Kämmerchen des Wirtshauses, in dem sie arbeitet ‒ immerhin aber in einer Epoche, in der Immanuel Kant mit der Forderung „Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen“ die Menschheit zur Aufklärung einlädt. Doch wie schade, zur großen Party darf wohl nur die eine Hälfte der Menschheit. Eine besonders perfide Spielart männlicher Eitelkeit: Wenn der Dichter die Magd zu Geisterhebung aufstacheln will, sie aber nicht wie erwartet mit Verehrung und vor allem Willigkeit auf der ganzen Linie reagiert, sondern sich tatsächlich die Frechheit herausnimmt, sich ihres Verstandes zu bedienen, dann ist die aufgeklärte und entlarvte Dichterseele schneller eingeschnappt, als eine Leberwurst Piep sagen kann.

Zum Schluss höre ich die Stimme Valerie Solanas’, der Radikalfeministin, die einst auf Andy Warhol schoss. Bei der Lesung wird der Autor übrigens verraten, dass es sich beim Titel von Solanas’ Kampfschrift Manifest zur Vernichtung der Männer um einen Übersetzungsfehler handelt und die kleine Erbauungslektüre eigentlich Manifest zur Zerstückelung der Männer heißt. Wer da nicht rote Wangen bekäme!

Es sind Männer, die die Geschichte, wie wir sie kennen, geprägt haben: Religionsstifter, Feldherren, Aggressoren und Tyrannen, Städtebauer, Komponisten und Dichter. Und sind die beiden zutiefst menschlichen Pole Genie und Gewalt, zwischen denen Geschichte stattfand und stattfindet, nicht in Wirklichkeit zutiefst männlich? Mein Eindruck angesichts der geballten Energie und des Wutpotenzials in Zaimoglus Geschichte der Frau: Nö.

Ihre

Kristin Lange

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