Kristin liest: Laetitia Colombani ‒ Der Zopf

Seit Wochen leuchtet mir in der Buchhandlung dieser Roman in einladendem Grün und Gold entgegen. Auch eine Kollegin schwärmte. Endlich nehme ich mir dir Zeit, ihn zu lesen und finde mich an der Seite von drei Frauen an Wendepunkten ihres Lebens. Sie leben an weit voneinander entfernten Orten der Erde, und ihre Lebensumstände und Hintergründe könnten unterschiedlicher nicht sein.

Da ist zum Beispiel Smita, die in einem kleinen Dorf in der indischen Provinz lebt. Als sie sechs Jahre alt war, hat ihre Mutter sie zum ersten Mal mit zu ihrem Arbeitsplatz genommen. Guck’s dir an, hat die Mutter gesagt, danach machst du es selbst. Seitdem ist es Smitas Beruf, die Exkremente ihrer Mitmenschen zu beseitigen, mit bloßen Händen, Tag für Tag ‒ und an den Geruch, hat ihr damals die Mutter versprochen, an den wirst du dich gewöhnen. Smita hat sich nicht gewöhnt, und schon gar nicht ausgesöhnt. Insbesondere nicht mit der Aussicht, dass ihre Kleine denselben Weg gehen wird. Smita hat einen Dickkopf, und in den hat sie sich gesetzt, dass ihre Tochter zur Schule gehen wird ‒ für Menschen ihrer Kaste ein gesellschaftliches Unding.

Wir machen einen Schwenk nach Palermo zu Giulia. Ihre Welt ist die Perückenfabrik ihres Vaters, für Giulia vertraute und geliebte Welt. Die  jedoch Risse bekommt, als der Vater verunglückt und Giulia sich plötzlich in der Verantwortung für den Familienbetrieb sieht. Bald muss sie feststellen, wie es um die Fabrik wirklich bestellt ist. Der Vater hat die Misere vertuscht, und fast habe ich mir beim Lesen gewünscht, dass er nicht mehr aus dem Koma aufwacht und die Enthüllung miterlebt. Für Giulia stehen die Chancen, die Fabrik und damit den Lebensunterhalt der Familie und Dutzende von Arbeitsstellen zu retten. Die Idee zur Lösung des Problems ist dann auch völlig absurd: Das ist noch nie so gemacht worden, was würde Papa sagen, was die Familie und überhaupt?

Die Dritte im Bunde ist Sarah in Montréal. Sarah ist Geschäftsfrau und verfügt über ausgezeichnet funktionierende Ellbogen. Mit denen hat sie sich ihren Platz in der Männerwelt ihrer Firma erobert, sie sind ihre Lebensversicherung und ihr ganzer Stolz, und da wäre es doch gelacht, nicht wahr, wenn sie sich von einem lächerlichen Knoten in der Brust aus der Bahn werfen ließe? Der Krebs passt nicht ganz ins strahlende Selbstbild, könnte andererseits jedoch eine Gelegenheit sein, sich zu beweisen, was sie gelernt hat: Selbstkontrolle, die Fähigkeit, Schwäche zu verbergen ‒ sogar vor den eigenen Kindern. Dieses Versteckspiel klappt ausgezeichnet. Eine Zeit lang. Und während man sich durch die Scharade liest, die Sarah veranstaltet, weiß man natürlich die ganze Zeit, dass sie in ihrer bewährt zielstrebigen Art auf ihre ganz persönliche Katastrophe zusteuert: aufs Einknicken, aufs Versagen aller erlernten Strategien. Und auf die Erkenntnis, dass nun etwas Neues hermuss.

Wie diese drei Frauen die Stärke, die von Anfang an in ihnen steckt, in eine befreiende und lebensverändernde Kraft ummünzen, erzählt uns Laetitia Colombani in einer wohltuend allürenfreien Sprache. Und wie sie die drei Geschichten, bei denen ich mich immer wieder fragte, was sie miteinander zu tun haben, am Ende verflicht wie zu einem Zopf, ist von so schlichter und einleuchtender Logik, dass ich überrascht war, dass ich davon überrascht war.

Ihre Kristin Lange

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