Kristin liest nix

Erstens. Mein Mann und ich verreisen nicht so gerne. Wenn wir uns – frei nach Loriots verzweifeltem Ausruf: „Die Anderen tun es doch auch!“ – einmal zu einer längeren Fahrt hinreißen lassen, streiten wir uns gerne darüber, was schlimmer ist: Pipimüssen oder Heimweh.

Zweitens. Der Vater eines lange verflossenen Exfreundes von mir gab einmal seinem Sohn auf einer kurvenreichen Autofahrt  einen Rat mit auf den Lebensweg, dessen genial komprimierte aber profunde Wahrhaftigkeit mich heute noch umhaut: Schaltfäule ist schlimmer als Mundgeruch.

Schaltfäule, Mundgeruch, Pipimüssen, Heimweh. Wohl kaum jemand wird ernstlich behaupten, dass all diese Phänomene an Furchtbarkeit zu überbieten wären. Oder dass sie irgendetwas mit dem Thema Bücher oder Lesen zu tun haben. Und doch tue ich genau das. Ich behaupte, dass es einen Seinszustand gibt, der schlimmer ist alles zusammen:

Nichts zu lesen haben.

Zum Nachttisch zu greifen und dort nichts vorzufinden als die letzten drei misslungenen Lektüreversuche! Obenauf der Thriller, der ankündigte, dass er mich zutiefst verstört zurücklassen werde. Auf Seite hundert war ich immer noch gänzlich unverstört, dafür war mir die Protagonistin fremder als auf Seite fünf. Ich hielt das für kein gutes Zeichen und gab auf.

Das Buch darunter weckte meine Vorfreude, indem es mir versprach, dass die Mutter des Protagonisten sterben würde. Der Protagonist seinerseits versprach mir gleich am Anfang, dass er das jetzt erzählen wolle. Dutzende von Seiten später taumelte der junge Mann noch immer durch seinen schnarchlangen Tag X. Der Mutter ging es gut. Das Buch fiel mir aufs Gesicht, und ich schrak auf. Ich hielt das für kein gutes Zeichen und vertraue seitdem darauf, dass Donna Tartts viel gerühmtes Buch vom Distelfink seine erzählerische Wucht entfalten wird, wenn ich und es einmal sechs Wochen lang miteinander eingeschneit sind. Ganz zuunterst schließlich Paul Auster. 4 3 2 1. Muss ich mehr dazu sagen? Okay. Das Buch ist großartig. Es ist wirklich großartig. Ich kann es Ihnen leihen! Auch das Lesezeichen – aber das hätte ich dann hinterher gerne zurück. Es liegt zwischen den Seiten 120 und 121.

Eben kommt mein Mann vom Einkaufen. „Gute Nachrichten, Schatz“, ruft er mir schon von der Haustür entgegen. „Das neue Coop-Magazin ist da. Ich hab dir eins mitgebracht!“

Lesestoff! Gerettet!

Ihre Kristin Lange

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