Syrien. Die Schauspielerin Amal begleitet eine Freundin beim Unterwäschekauf. Der Arzt Hammoudi reist von Paris nach Damaskus, um seinen Pass verlängern zu lassen. Er trifft alte Freunde und seine Familie. Die Sätze, die Szenen: arg schlicht, arg kunstlos. Auch tut die Autorin nicht viel, um mir das Gefühlsleben der Figuren zu offenbaren; sie bleiben flach. Irgendwelche Leute in ihrem Alltag, der vor allem eins ist: fremd. Noch ein paar Seiten, dann werde ich das Buch beiseitelegen. Prädikat: etwas nichtssagend.
Irgendetwas lässt mich weiterlesen. Der Alltag in Damaskus verändert sich. Die Autorin tut weiterhin nichts, um mir das Gefühlsleben der Figuren zu offenbaren. Aber: Was, denke ich, wenn man mich zwingen würde, einem Führer zu huldigen, den ich hasse? Wenn ich nicht mehr wüsste, was ich zu wem sagen darf, wem ich vertrauen kann und wer mich verrät? Prädikat: Interessant.
Ich lese weiter. Der Alltag in Damaskus verändert sich weiter. Am 8. Juli marschiere ich in friedlicher Formation in Hamburg von den Deichtorhallen zum Millerntorplatz, um mein kleines Scherflein zum großen Gipfel beizutragen. Was, denke ich, wenn man mich in diesem Augenblick herausgreifen würde? Verhaften, verprügeln, foltern, mit dem Tode bedrohen? Am nächsten Tag fahre ich nach Hause. Was, wenn sich die Straße, in der ich wohne, in eine Trümmerlandschaft verwandelte? Wenn nebenan Ärzte in umgebauten Wohnzimmern im Akkord operierten – und meist umsonst? Ich lese weiter. Prädikat: Subkutan.
Am nächsten Tag gehe ich zur Arbeit. Was, wenn mir nicht viel übrigbliebe, als in einem gruseligen Boot übers gruselige Mittelmeer und wahlweise dem Tod oder einer gruselig ungewissen Zukunft entgegen zu schaukeln? Ich lese weiter. Ein kurzer Dialog zwischen einem Pärchen beim Bezahlen eines Schleppers: „Als würden wir eine Kreuzfahrt buchen“, scherzt Youssef. „Unser erster gemeinsamer Urlaub“, bestätigt Amal. Es wird eng beim Lesen, irgendwo im Hals.
Schlichte Sätze, kunstlose Szenen. Irgendwie geht es weiter. Geht doch immer weiter, denke ich. Manche haben Glück und kommen irgendwo an. Manche irren immer noch um die Welt. Manche sterben. Irgendwelche Leute, und vielleicht haben die ein andermal Glück. In einem anderen Leben.
Das Buch ist aus. Prädikat: unerträglich.
Olga Grjasnowa, Gott ist nicht schüchtern, Aufbau Verlag 2017, 309 Seiten