Kristin liest: Tarjei Vesaas ‒ Das Eis-Schloss

Vor einiger Zeit habe ich mich verstärkt mit norwegischer Literatur beschäftigt, dem Schwerpunktthema der vergangenen Frankfurter Buchmesse. Dabei kam mir ein kleiner Roman in die Hände, den der 1970 verstorbene Schriftsteller Tarjei Vesaas 1963 schrieb und der nun in einer Neuübersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel vorliegt.

In der Geschichte ist es Herbst, ein bitterkalter Spätherbst. Der Wasserfall unten am Fluss ist größtenteils zu Eis erstarrt. Immer träger fließt das Wasser, gefriert und bildet Höhlen, fast durchsichtige Gewölbe aus Eis, ein gewaltiges Schloss mit einer stetig wachsenden Zahl von Zimmern. Die Kinder der Schulklasse in dem kleinen norwegischen Ort fiebern einem Ausflug zu diesem Wunderwerk entgegen. Ein Mädchen ist neu in der Klasse, die schweigsame Unn, von der man weiß, dass ihre Eltern gestorben sind und sie nun im Haus ihrer Tante wohnt.

Sie spricht kaum. Und nimmt doch Kontakt zu ihrer Klassenkameradin Siss auf, lädt sie zu sich nach Hause ein. Die sich anbahnende Freundschaft der beiden Elfjährigen schildert Vesaas als faszinierende, beinahe verstörende Fremdheit und doch als unbedingtes Zueinanderhin, und es steckt darin beinahe etwas von der Verheißung einer erotischen Liebesbeziehung.

Dann verschwindet Unn. Der Leser weiß, sie hat am Morgen die Schule geschwänzt und ist zum Eis-Schloss gelaufen, verwirrt von Siss’ Besuch und in dem Glauben, sie könne der neuen Freundin an diesem Tag noch nicht in die Augen sehen. Sie betritt das Schloss und verirrt sich im Labyrinth seiner Kammern und Gewölbe.

Unn bleibt trotz wochenlanger, verzweifelter Suche unauffindbar, und die Trauer schließt sich um Siss’ Herz wie Eis. Aus Angst, ihre Erinnerungen an Unn könnten verblassen, schwört sie in unglücklichen Nächten sich und der Freundin, dass keine anderen Gedanken in ihr Platz haben sollen. Unerreichbar für Mitschüler und Lehrer, unerreichbar auch für ihre Eltern schließt sie sich gegen die Welt ab, und mir kommt der Gedanke, dass ich nachsehen will, ob das Wort Schloss auch im Norwegischen eine doppelte Bedeutung hat.

Bei einer Sache regt sich ein leiser Zweifel in mir. Darf ich glauben, dass Kinder untereinander so geduldig und rücksichtsvoll oder Erwachsene so klug und im rechten Moment wunderbar intuitiv sind wie im Buch dargestellt? Doch denkbar ist es, und so beschließe ich, mich durch diese Geschichte mit all ihren Stimmungen führen zu lassen und jedes Bild, jede Metapher zu genießen. Die Sätze, von denen jeder ein kleines, geschlossenes Kunstwerk darstellt, wie die Eiskristalle, die auf dem Umschlag abgebildet sind. Und irgendetwas lässt mich darauf vertrauen, dass auch in Siss dieser längste aller Winter einmal zu Ende sein und ihm ein Frühling folgen wird.

Ihre

Kristin Lange

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