Kristin liest: Ulrich Woelk – Der Sommer meiner Mutter

Viel kann man über den Inhalt des Buches nicht erzählen, ohne zu spoilern. Und während ich es so hin und her blättere, um mir Namen, Handlung und Aufbau noch einmal ins Gedächtnis zu rufen ‒ es ist schon eine Weile her, dass ich es gelesen habe ‒, fällt mein Blick auf den ersten Satz: „Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.“

Sieh an, der Autor selbst verrät das Ende. Und erzählt aus der Sicht des elfjährigen Tobias von zwei sehr unterschiedlichen Familien. Seine eigene ‒ Vater, Mutter, Tobias ‒ denke ich mir etwa so wie meine auf Fotos aus jener Zeit. Vater, Mutter und zwei Töchter vorm halbfertigen Eigenheim, und alles da draußen ‒ Rudi Dutschke, Minirock, Pille und die weibliche Berufstätigkeit ‒ fern wie der Mond. Immerhin, Tobias’ Mutter kauft sich gleich am Anfang beinahe eine Jeans. Der aufrührerische Plan wird letztlich aber doch verworfen, zu groß die Befremdung über das Vorhaben bei Ehemann und Sohn.

Während der Weltraumfan Tobias der Mondlandung entgegenfiebert, zieht ins leerstehende Nachbarhaus die etwas andere Familie. Die Leinhards, so stellt sich bald heraus, sind Kommunisten! Allerdings sehr charmante Kommunisten: Das unkonventionelle Paar sucht die Freundschaft mit Tobias’ Eltern. Die sind durchaus empfänglich für den neuen, frischen Wind, der plötzlich die gestutzten Siedlungsgärten durchweht, und für die neuen, frischen Sichtweisen der Nachbarn, was etwa die Ehe angeht.

Für Tobias wäre all dies natürlich weniger spannend, wäre da nicht Rosa, die dreizehnjährige Tochter der Nachbarn, benannt natürlich nach Rosa Luxemburg. Rosa liest Bücher, für die sie entschieden zu jung ist, nennt ihre Eltern beim Vornamen, und ihre Brüste sind für Tobias zunächst vor allem eins: fern wie der Mond. Der übrigens auch und immer noch darauf wartet, endlich bemannt zu werden, wie hatte Tobias das auch nur für eine Sekunde vergessen können! Das Fernsehspektakel, da sind sich alle einig, wird man sich auf jeden Fall gemeinsam anschauen.

Als der große Tag gekommen ist, sitzen vor dem Nordmende Spectra Color TV-Gerät von Tobias’ Onkel andere Menschen als die vom Anfang der Geschichte. Zu viel ist zwischen ihnen passiert, und das sind ganz andere Dinge, als irgendeiner oder irgendeine von ihnen sich das hätte vorstellen können. Oder im Nachhinein richtig begreifen. Schon gar nicht bewältigen. Und darum nimmt sich Tobias’ Mutter im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung und nur wenige Monate, nachdem sie sich beinahe eine Jeans gekauft hätte, das Leben. 

Ich habe dieses halb nostalgische, halb traurige Sittengemälde der Bundesrepublik zwischen Spießigkeit und Aufbruch gerne gelesen. Es spielt in einer Zeit, in der es so heftig brodelt, dass ganz normale Frauen sich beinahe eine Jeans kaufen, in der echte gesellschaftliche Umbrüche aber vor allem noch eins sind: fern wie der Mond.

Ihre

Kristin Lange

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