Lektüre für Zeitreisen gesucht

In Ermangelung anderer Gelegenheiten werde ich in diesem Sommer wohl eher zeitlich als räumlich reisen. Sehnsüchtig werde ich gedankliche Abstecher in den letzten Sommer unternehmen, in dem ich viel Zeit zum Lesen hatte und in den Winter, in dem ich zwar nicht viel gelesen habe, dafür aber ein wunderbares Land entdecken durfte. Damit werde ich mich trösten, denn ich habe einen neuen Job angefangen. Deshalb ist an Reisen nicht zu denken und mein wieder hübsch bepflanzter Balkon muss tagsüber leider ohne mich auskommen.

Außerdem beginne ich gerade einen neuen Roman und der zwingt mich zu weiteren Ausflügen in die Vergangenheit, denn er soll vom Schicksal einer ostdeutschen Familie nach dem Fall der Mauer erzählen. Eigentlich – so dachte ich eine ganze Weile – ist das ja gar nicht so wirklich weite Vergangenheit und ich muss nicht viel recherchieren. Aber je konkreter das Vorhaben wird, desto klarer wird mir, dass sich in den 25 Jahren seither viel verändert hat und ich mich nicht allein auf meine Erinnerung verlassen kann.

Was liegt da näher, als bei den Kollegen zu schauen, die in jener Zeit geschrieben haben. Und so liegen auf meinem SuB in diesem Sommer Bücher wie: „Adieu DDR“ von Helga Königsdorf, „Die verkauften Pflastersteine“ von Thomas Rosenlöcher und „Die unter dreißig“ – ein Sammelband von jungen DDR-Autoren, der im Sommer 1990 erschien und den ich besitze, weil ich damals für einige Zeit mit einem jener Autoren liiert war. Der literarische Wert dieses Buches ist eher zu vernachlässigen, aber es hilft, mich an den Alltag und die Atmosphäre zu erinnern, aus der meine Romanfamilie kommt. Mein Recherche-SuB hält außerdem Sarah Kirschs „Die Pantherfrau“, Grit Poppes „Andere Umstände“, Erich Loests „Nicolaikirche“ und auch Jana Hensels „Zonenkinder“ bereit, auch wenn einige von ihnen nur bedingt zur Recherche taugen, da auch sie erst später entstanden und also nicht ganz authentisch sind. Falls Sie noch weitere Tipps für diesen SuB haben, nehme ich sie gern entgegen.

Ich gebe zu, ich hätte nicht gedacht, dass es so anstrengend sein würde, wieder mit jener Zeit konfrontiert zu werden. Mit Umbrüchen, Ängsten, verlorenen und neu entwickelten Hoffnungen. Manchmal werde ich mir zur Entspannung meine Laufschuhe anziehen, eine Runde durch den Park drehen und mir dabei vergleichsweise einfache Kost vorlesen lassen: „Das Museum der Unschuld“ von Orhan Pamuk, „Der Distelfink“ von Donna Tartt und „Eine Billion Dollar“ von Andreas Eschbach liegen dafür auf meinem MP-3-Player bereit.

Wenn ich mich beim Laufen der Gegenwart vergewissert habe, werde ich mich wieder der Vergangenheit stellen und versuchen, mich daran zu erinnern, wie wir damals gelebt haben. Als wir unsere eine Sorte Milch in der Kaufhalle statt im Supermarkt besorgten. Als die Miete für eine Wohnung 25 Mark betrug. Als wir Zigaretten mit den Namen ‚Cabinet‘ oder ‚Club‘ rauchten. Als nur wenige Wohnungen mit Telefon ausgestattet waren und an Handys noch gar nicht zu denken war. Als eilige Mitteilungen noch von Telegrammboten gebracht wurden.

Diese Form der Zeitreise funktioniert gut, wie ich kürzlich bei einem Besuch im Schwimmbad feststellte. Ich hatte die Münze für den Garderobenschrank vergessen und bat den Mann an der Kasse um Kleingeld. Er sah mich nachsichtig an, ehe er sagte: „Markstücke habe ich nicht.“

Aus der Zeit gefallene Grüße
Ihre Dorrit Bartel

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