Lesen Sie nichts Neues im Urlaub!

Belasten Sie sich nicht damit, irgendetwas von dem zu lesen, wovon alle Welt spricht, die Feuilletons voll sind, oder Bücher, über die das literarische Quartett schwafelt. Sie müssen nichts  Aktuelles gelesen haben, schon gar nicht von den Büchern diverser Bestenlisten, von denen behauptet wird, dass man sie gelesen haben muss. Muss man nicht! Urlaub soll der Erholung dienen. Erholung lässt sich nicht dadurch erreichen, dass man auch noch die Lektüre zur Pflicht macht. Am einfachsten ist es, Sie lesen etwas Altes, etwas, was nicht mehr angesagt ist. Ich will Sie keineswegs langweilen. Es gibt spannende und unterhaltsame Sachen von den Klassikern und vor allen Dingen von denen, die es nicht zum Klassiker gebracht haben.

Karl May zum Beispiel ist ein Kandidat, der einen überwältigenden Erfolg schon zu Lebzeiten hatte, der bis heute gelesen wird, aber nie in die Runde der Klassiker aufgenommen wurde. Vielleicht winken Sie ab, weil Sie Winnetou und Hadschi Halef Omar schon kennen. Die will ich Ihnen gar nicht empfehlen, obwohl das für den Urlaub nicht die schlechteste Wahl wäre. Aber kennen Sie die Novelle »Wanda«? Ein frühes Werk, 1875 erstmalig erschienen. Hauptperson ist die wilde Polin Wanda von Chlowicki, die dem Baron Eginhardt von Säumen versprochen ist. Pech nur, dass sie ihn nicht liebt. Pech auch, dass der Baron kein Baron ist, sondern ein Hochstapler. Das findet Emil Winter heraus, Feuerwehrmann, Essenkehrer und heimlicher Dichter. Wanda gerät in Lebensgefahr – nicht nur einmal – und zuletzt gibt es eine spektakuläre Ballonfahrt, ein Showdown in den Lüften sozusagen. Na, hört sich das nach unterhaltsamer Urlaubslektüre an? Enthalten ist die Novelle in Band 72 der „Gesammelten Werke“ (Schacht und Hütte). Sie können aber auch antiquarisch die Einzelausgabe von Weltbild kaufen. Fragen Sie Ihren Antiquar oder Booklooker. Oder Sie laden sich die Novelle als E-Book (epub) kostenfrei von der Homepage der Karl May Gesellschaft herunter.

Und wo wir schon bei Karl May sind, gleich noch eine Empfehlung: der Kriminalroman »Auf der See gefangen«. Wenn ihnen die Novelle um die wilde Polin doch zu wenig abenteuerlich ist, weil außer dem Hochstapler keine weiteren Schurken, Indianer, wilde Beduinen oder sonstige gefährliche Gesellen vorkommen, ist dieser frühe Roman (Erstveröffentlichung als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift »Frohe Stunden. Unterhaltungsblätter für Jedermann« im Jahr 1878) genau das richtige. Prinz Max von Schönberg-Wildauen ist unschuldig des Mordes angeklagt und ins Ausland geflohen. Treskow, der Bruder seiner damaligen Verlobten jedoch glaubt an seine Unschuld, wird Detektiv und folgt den Spuren des wahren Schurken. Die Jagd geht bis nach Amerika und später auf hoher See weiter, denn der Schurke ist der Schwarze Kapitän, also ein Pirat. Damit das nicht so einfach ist, gibt es auch noch seine Geliebte, die auch „Miß Admiral“ genannt wird. Sie hängt ihrem Liebhaber aber nicht in Treue an, sondern arbeitet gegen ihn, was zu unerwarteten Entwicklungen führt. Prinz Max heißt in Amerika Max Parker und ist Kapitän des schnellsten Piratenjägers geworden, der »Swallow«, und so machen sich dann alle auf die Jagd. Alle? Habe ich ›Alle‹ gesagt? Richtig, da war doch noch was oder besser gesagt, da waren noch welche. Ein paar mehr Personen kommen noch vor, nämlich zum Beispiel Sam Fire-gun und Winnetou. Und wieder gibt es eine Wanda, nämlich Wanda von Tzernowska, aber was es mit der auf sich hat, das lesen Sie lieber selbst, nämlich entweder in Band 80 der „Gesammelten Werke“ (Karl May Verlag Bamberg) oder in der Weltbildausgabe, die antiquarisch noch leicht zu bekommen ist. Oder Sie lesen online bei zeno.org – da gibt es den ganzen »Criminalroman« nach der Erstausgabe per Mausklick.

„Richtige“ Klassiker empfehle ich ihnen aber auch noch. Schauen Sie doch einmal nach, ob Sie nicht einen Band Novellen von Theodor Storm im Regal haben. Nehmen Sie den vorsichtig heraus, blasen den Staub ab und packen Sie ihn in den Koffer. Die Novellen Storms sind eine prima Urlaubslektüre. Beim Lesen kann man schön vom hier und jetzt abschalten. Sie müssen ja nicht unbedingt den „Schimmelreiter“ lesen, wenn Sie deswegen von der Schulzeit noch traumatisiert sind (obwohl das unter Umständen eine echte Leseerfahrung werden kann, nach all den Jahren), und auch nicht „Immensee“ (die Novelle, die ich für überschätzt halte und auch ein wenig langweilig finde). Aber schauen Sie sich mal den „Pole Poppenspäler“ an, „Viola tricolor“, „Aquis submersus“, „Carsten Curator“, „Eekenhof“ oder „Zur Chronik von Grieshuus“. Eine ganz besondere Empfehlung bekommt von mir »Der Doppelgänger«. Diese Novelle bekommen Sie auch als Textdatei kostenlos aus dem deutschen Textarchiv. Das Epub-E-Book müssen Sie sich daraus allerdings selber machen, aber dabei hilft Ihnen die kostenfreie Software Calibre, mit dem Sie auch ihre sämtlichen E-Books verwalten können.

Und wo wir gerade bei Novellen sind: Steht in Ihrem Regal auch noch ein Novellenband von Paul Heyse, dann nehmen sie den auch mit.  Heyse war übrigens der erste deutsche Literat, der den Nobelpreis bekam (1910). Vor ihm haben schon Theodor Mommsen (1902) und Rudolf Eucken (1908) den Literaturnobelpreis bekommen, waren aber beide nicht vom Fach; der erste Historiker, der zweite Philosoph. Von Heyse gibt es inzwischen keine aktuellen Buchausgaben mehr, in Antiquariaten meist dicke, alte, teure Wälzer oder mehrbändige Werkausgaben. Aber als E-Book sind einige Novellen kostenfrei greifbar, etwa »Andrea Delfin – Eine venezianische Novelle«.

Anstatt zu Storm oder Heyse können Sie auch zu Theodor Fontane und Gottfried Keller (vor allem »Die Leute aus Seldwyla« und die »Züricher Novellen«) greifen. Die Auswahl ist so groß, dass ich an dieser Stelle mit meinen Empfehlungen aus dem großen Fundus der Klassiker aufhöre. Oder nein. Einen habe ich noch!

Sie gruseln sich gern? Sie lieben die alten Schauergeschichten aus dem 19. Jahrhundert? Dann lesen Sie doch die »Geistergeschichten« von Rhoda Broughton. Die Enkelin von Sheridan Le Fanu war zu ihrer Zeit eine bekannte Autorin derartiger Erzählungen und Romane. Sie bekommen das Buch beim Lindenstruth Verlag, der sich um solche schaurige Literatur kümmert. Es gibt das Buch dort in einer preiswerten Paperbackausgabe oder etwas teurer, dafür gebunden und mit Schutzumschlag. Wenn Sie dort bestellen, dann bestellen Sie am Besten gleich das Buch von ihrem Onkel mit: Sheridan Le Fanu »Das Zimmer im Fliegenden Drachen.« Dann haben Sie gruselige Lektüre für den Urlaub genug.

Ich wünsche Ihnen eine schönen Urlaub und ausreichende Erholung beim Schmökern

Ihr Horst-Dieter Radke

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