Ich halte mich nicht für einen neidischen Menschen. Es hat mich nie besonders gestört, wenn andere bessere Verkaufszahlen hatten, schlankere Schenkel oder teurere Urlaube. Meinen Freundinnen und Freunden gönne ich das von Herzen, bei allen anderen ist es mir, ehrlich gesagt, ziemlich gleich.
Und doch lerne ich in letzter Zeit, dass ich in einer Hinsicht nicht ganz frei von Neidgefühlen bin – einem sehr speziellen, sehr literarischen Neid: dem Leseneid.
Frei nach Nina George ist das der Neid auf einen Menschen, der ein Buch zum allerersten Mal liest. Diesen Leseneid festzustellen hat mich hart getroffen.
Es begann mit Der Brief für den König von Tonke Dragt – ein großartiges Buch. Falls Sie es nicht kennen: Ändern Sie das!. Mein ältester Sohn saß mit dem Roman auf dem Sofa, Zeigefingerknöchel im Mund, Wasser in den Augen. Ich musste nicht einmal fragen, was gerade passiert. Ich wusste es. Natürlich wusste ich es. Denn ich war ja schon einmal da – bei Tjuri, auf den Knien neben einem sterbenden Ritter, mitten im Unrecht, mitten in einer grausamen, unverständlichen Welt – und ich wusste, wie es weitergeht.
Und genau da spürte ich ihn: den Neid.
Den Neid darauf, dass mein Sohn etwas zum ersten Mal erlebt, das für mich nur noch Wiederholung sein kann.
Wie wunderschön ist es, zum ersten Mal mit Scarlett O’Hara für die falsche Liebe zu kämpfen? Oder mit Hercule Poirot im Orient-Express zu sitzen, noch ahnungslos, wer der Mörder ist. Wie magisch, zum allerersten Mal mit Harry Potter nach Hogwarts zu reisen – ohne zu wissen, was hinter der nächsten Tür wartet und doch im tiefen Gefühl, dass man hier von nun an immer willkommen ist?
Ich gestehe es: Ich bin neidisch.
Wie gern würde ich wenigstens noch einmal zum allerersten Mal mit Jay Gatsby nach dem grünen Licht greifen.
Aber, wie Nick Carraway so treffend zu seinem ewig träumenden Nachbarn und Freund Jay sagt: „You can’t repeat the past.“
Nein. Man kann es wirklich nicht.
Und doch – es gibt einen kleinen Trost.
Denn wenigstens muss ich nicht Gregs Tagebücher lesen. Weder zum ersten Mal noch überhaupt. Und auch die Schillers, Goethes, Brechts, die in der Schule noch lauern – die habe ich ebenfalls schon hinter mir.
Gibt es eigentlich Leseschadenfreude?
Ich fürchte, ja.
Und sie fühlt sich gar nicht so schlecht an.
Joan Weng