Lieblingsschurken: Iwan Ogareff

Ich glaube ja, wir Frauen lesen nur deshalb so gern über die männlichen Schurken, weil wir insgeheim an das Gute in ihnen glauben wollen. Wir sind innerlich felsenfest davon überzeugt, dass, wären sie nur uns begegnet, wir sie hätten zähmen können. Wir hätten sie in einem Maße geliebt und verstanden, die gleichgültige Welt hätte irgendwann einfach nicht anders gekonnt, als ebenso zu empfinden.

Die Zigeunerin Sangarre in Jules Vernes „Der Kurier des Zaren“ scheint diesen Optimismus mit mir zu teilen, denn sie liebt den finsteren Iwan Ogareff, Gegenspieler des Romanhelden, des Offiziers Michael Strogoff.

Die Handlung des Romans ist schnell erzählt: Um einen Bruder des Zaren vor Ermordung und Verrat durch Ogareff zu warnen, jagt Strogoff mit so ziemlich allem, was das 19. Jahrhundert hergibt, einmal quer durch Sibirien. Die Reise machen ihm die sich im Aufstand befindenden Tartaren recht ungemütlich, wobei sich Spannung und Humor im Roman gekonnt abwechseln. Für letzeren sind vor allem seine beiden sich fortgesetzt streitenden Begleiter zuständig. Bei ihnen handelt es sich um einen englischen und einen französischen Journalisten, und fast meint man, dass Jules Verne kein Klischee dieser beiden Nationen auslassen wollte – die Überzeichnung ist gleichermaßen boshaft wie treffend.

Der Romanheld Strogoff wiederum ist so ziemlich alles, was man sich von einem Mann im Allgemeinen wünscht: nett, nett anzusehen, beruflich erfolgreich, und als Sahnehäubchen hat er sogar ein gutes Verhältnis zu seiner Mutter.  Würde er heute leben, niemals würde Strogoff einen Jahrestag vergessen, dafür würde er ungefragt den Müll runterbringen und auf seiner Hetze nach Irkutsk regelmäßig eine kleine Nachricht simsen, damit frau sich keine Sorgen macht:  „Viel Stress, Liebling. Habe vegane Steichwurst gekauft und freu mich auf unser nächstes Treffen. Küsschen.“

Sein wir ehrlich, Strogoff ist sexy wie eine ungeöffnete Dose Niveacreme. Ganz im Gegensatz zum schurkischen Ogareff. Der zu recht degradierte Offizier ist nicht nur von leidenschaftlichem Hass auf die Zarenfamilie zerfressen, er ist auch Opfer heftiger Wutanfälle und sonstiger, meist unerquicklicher Leidenschaften. Er spielt. Er trinkt. Er lässt gern mal einen unliebsamen Opponenten – namentlich den braven Strogoff – auspeitschen und blenden.

Er ist ein Schurke, wenn es je einen gab, und obwohl es nirgends wörtlich so steht, weiß jede Leserin, dass Sangarre mit diesem Ausbund an Wildheit nicht wegen der netten Gespräche zusammen ist. Der Roman lebt von Ogareffs Präsenz. Der ehemalige Offizier ist von solcher animalischen Vitalität, seine Schlechtigkeit derart allumfassend, dass man als Leserin Tendenz hat, die Szenen ohne ihn zu überblättern.

Doch Ogareff ist nicht nur von blendender Virilität. Nein, was ihn endgültig zu meinem Lieblingsschurken macht, ist seine heimliche und nur seiner Geliebten gegenüber durchblitzende Zartheit. Hier haben wir eine leidende, verwundete Männerseele, die nach Heilung lechzt – und wer könnte dafür geeigneter sein als ich, oder jede andere Leserin?

Wie es für Ogareff ausgeht, mag ich nicht verraten, denn obwohl inzwischen über hundert Jahre alt, ist der Roman noch immer ein echtes Vergnügen und all seinen teilweise stark verfremdeten Verfilmungen vorzuziehen. Lesen Sie einfach selbst! Das Buch ist nicht dick und für Centbeträge zu kaufen, für den Kindle sogar ganz umsonst.

Ich wünsche viel Spaß bei der Lektüre und natürlich frohe Ostern!

Ihre Joan Weng

Jules Vernes, Der Kurier des Zaren,

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