Das erste, was mir in dieser Kirche auffiel: keine Bilder, keine geschnitzten Figuren. Aha: Du sollst dir kein Bildnis machen, das heißt, wir sind in einer evangelisch-reformierten Kirche. Deshalb auch kein Kirchturm, gerade mal ein aparter Dachreiter mit Glöckchen. Zweites Aha: Hier herrscht nur das Wort, genauso hatte es Christian Geissler gewollt, dessen Trauerfeier wir gerade besuchen, September 2008.
Evi, meine Frau: „So kommen wir auch mal in diese Gegend.“
Ich: „Psst.“
Christian Geissler: In den 60er-Jahren fing er mit realistischen Romanen und Hörspielen an, sein Thema war die Bewältigung der Nazizeit. Er machte Dokumentarfilme für das Fernsehen. Anfang der 80er zwei Lyrikbände, mit denen er sich aus seiner sprachlichen Ohnmacht herausschreibt. Dann Ende der 80er-Jahre wurden seine Romane und Hörspiele immer radikaler und verrätselter. Er selbst sagte einmal zu seinem Dilemma: Er schreibe immer genauer, aber sein Nachbar verstehe ihn immer weniger.
Und dann wollte er ausgerechnet im nordwestlichsten Zipfel Deutschlands beerdigt werden? Am Dollart, in Ditzumerverlaat?
Evi: „Der Sarg gefällt mir. Keine Blumen, nur ein grüner Kranz von seinen Enkeln.“
Ich: „Psst.“
Die letzten Lebensjahre lebte er zwar wieder in Hamburg, aber fast zwei Jahrzehnte hat er hier am Dollart gewohnt, auf Normal Null, oder knapp darunter, in der Ortschaft Altuikerei. Dies ist ein Ort, den man ohne genaue Wegbeschreibung nicht findet. Es gibt nicht mal so ein grünes Ortsschild. Wieso auch, wer hier lebt, kennt sich aus und braucht keine Belehrung. Man könnte sagen, dass dies in besonderer Weise auch auf Geisslers Spätwerk zutrifft: Man kommt als fremder und frisch zugezogener Leser nur mit Geduld und Nachfragen ans Ziel, wenn überhaupt.
Ich schaue mich unter der Trauergesellschaft um, ob bekannte Figuren aus seinem Werk anwesend sind: Silvi, die zerrissene Mutter, die statt Schwäche zu zeigen, lieber ihr Kind aufisst. Oder Honken, der Junge an der Hundekette, mit dem späteren Faible für alles Nationale, und mit nacktem Schädel durch die Wand.
Ich weiß, ich bin ungerecht, aber Geissler hat schließlich unter diesen Menschen gelebt, er hat das Rheiderland besungen und zum Mittelpunkt seines literarischen Kosmos‘ gemacht, nachzulesen in seinen Romanen Wildwechsel mit Gleisanschluß. Kinderlied (1996), ein kind essen. liebeslied (2001), im Gedichtband klopfzeichen (1998) oder im preisgekrönten Hörspiel Unser Boot nach Bir Ould Brini (1993).
Evi: „Du, der Pastor hat nicht mal einen Talar an.“
Ich: „Psst.“
Wo das Rheiderland liegt? Also, wenn man von Nordosten aus nach Holland fahren will, dann liegt es gleich hinterm Emstunnel rechts, zwischen Ems und Dollart, total wässrige Gegend, Gummistiefel nicht vergessen oder besser Gummiboot, falls mal überraschend die Flut kommt. Aber es gibt schon zu denken, dass Geissler ausgerechnet an diesem von Sturmflut und Klimawandel bedrohten Ort begraben liegen wollte. Die ständige Todesgefahr im Nacken: Auch dies könnte ein Teaser seines Lebens sein. Nach den Ereignissen im Deutschen Herbst und dem Tod der RAF-Gefangenen in Stammheim 1977 fühlte er sich durch einen Polizeistaat so sehr bedroht, dass ihm das Leben nur noch als Kampf ums Leben, ums nackte Überleben vorkam. In dieser Zeit gelang ihm auch der vielleicht verstörendste Roman der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts: kamalatta. romantisches fragment (1988), in dem es oberflächlich gesehen um die radikale Linke in der Bundesrepublik und vor allem die RAF geht, im Kern aber um das richtige Leben inmitten einer als gewalttätig und lebensbedrohlich wahrgenommenen Welt. Beim ersten Lesen damals schlug mir aber vor allem die Sprache vor den Kopf: Der Erzähler kam nicht nur mit einer politisch radikalen Sache daher, sondern gerade auch mit einer radikal poetisierten Alltagssprache. kamalatta war selbst etwas, was sich dem allgemeinen Gewaltzusammenhang entzog und dem Leser ein besonderes Leseleben eröffnete.
„Gott, gleich fallen die schwarzen Männer mit dem Sarg ins Grab.“
„Psst.“
Jetzt lässt Geissler sich also in dieser menschenleeren Ebene begraben, statt Schaalsee, Wüste, polnischer Wald, wie in seinen Werken, nur grünes Marschenland. Die Bewohner erweisen ihm die letzte Ehre, wie auch die Familie, Freunde und Gefährten von Hamburg bis nach Portugal und in die Schweiz.
„Guck mal, seine Frau wirft Federn ins Grab!“
„Psst!“
Eines seiner schönsten Gedichte hat er für Bremer Sonderschulkinder geschrieben, die Nashornlieder, die auch nicht lange fackeln, sondern gleich ins Herz des freien Lebens zielen:
der schwere schritt unter fächerförmigen bäumen
der findevogel zirpt in alten falten
in hohen gräsern wird sacht wacht gehalten
die waffennase träumt von freien räumen
Politische und ästhetische Radikalität gehören bei ihm untrennbar zusammen. Deshalb gab er seinem Namen auch einen Zusatz: Christian Geissler (k), das K steht für Kommunist und Kammersänger.
Den Ablauf der Beerdigung hat er im Einzelnen mit dem Pastor abgesprochen, kein Talar. Vaterunser und Pipapo, wie er vielleicht sagen würde. Der Pastor war wohl ein wirklich guter Freund aus langen schwarzen und wässrigen Nächten im Rheiderland. Wir haben Herbst 2008 und verabschieden uns von Christian Geissler. Ein ganz normales Grab, Wikipedia hat ein schönes Foto davon. Die Sonne kommt im richtigen Moment heraus, zwei Rentner sitzen im Sparkassenschatten und ein Junge mit Fleischmütze wirft Altglas in den Glascontainer.
Ich: „Und wie soll das Leben weitergehen ohne Christian Geissler?“
Evi: „Psst!“
Fleischmütze steht für Naziglatze, typisch Geissler. Auf dem Heimweg sind wir über Altuikerei gefahren. Ganz sicher, ob wir’s wirklich gefunden haben, sind wir nicht.
Ihr Jürgen Block