Lob der Brennnessel

von Jürgen Block

Früher kriegte ich immer so einen Hals. Wenn ich mit Eimer und kurzen Hosen in den Arbeitsgarten marschierte, um nach dem Rechten zu sehen, dann stachen sie zack! und erbarmungslos zu.

Vorne im Rosenbeet ließen sie sich natürlich nicht blicken, aber im Halbdunkel von Ahorn und Rhododendron hatten sie sich in meinem Grund und Boden festgekrallt, bereit für ihre hinterhältigen Attacken.

Scheibe, tat das weh! Ich meine jetzt nicht die Verbrennungen, sondern die Schmach, von einem Unkraut übertölpelt worden zu sein.

Ich war schon kurz davor, das Übel bei der Wurzel zu packen und die Nessel mit Stumpf und Stiel auszurotten. Selbst meine Augen bekamen beim Anblick der herzförmigen Sägezahnblätter Juckquaddeln, und der Deibel in mir schrie:

„Hau die Nessel weg!“

Aber dann schüttelte sich mein Kopf:

„Dafür kann sie nichts. Außerdem gedenke der Schmetterlinge, die von Brennnesseln leben..“

Richtig. Auch erinnerte ich mich daran, wie wir sie als Kinder überlisteten: Wir hielten einfach die Luft an, wenn wir ihre Blätter anfassten, und, das behauptet meine Erinnerung felsenfest, verbrannten uns nicht. Damals kannten wir noch nicht Arno Schmidt:

„Jeder Schriftsteller sollte die Nesselwirklichkeit fest anfassen und uns allen zeigen.“

Dann die Wende.

Zum Geburtstag bekam Soraya von unseren Hamburger Freunden, die selber fern aller Nesseln auf Etage wohnten, ein Brennnesselbuch geschenkt. Daraus konnte man lernen, wie gesund das Unkraut ist: Eisen, Vitamine, Linolsäure. Wer hätte das gedacht? Seitdem lasse ich sie mit gutem Gewissen zu unserem Lieblingsnachbarn herüberwuchern.

Interessant auch, dass sie mancherorts ‚Donarkraut‘ genannt werden, nach dem germanischen Gott Thor, der die männliche Sexualität verkörpert. Um der Männlichkeit auf die Sprünge zu helfen, soll man gemäß bewährtem germanischem Brauch auf sie seinen Urin ablassen und dabei an die Angebetete denken. (Ja, Soraya.)

Die Vorurteile dem nesseligen Beikraut gegenüber reichen bis zur Steinzeit zurück. Die Jäger und Sammler schätzten sie noch als Heil- und Nutzpflanze, seit der neolithischen Revolution jedoch war sie den sesshaften Bauern als Unkraut verhasst. Darum ist sie in den Sprüchen Salomons ein Symbol für den Acker des Faulen und den Weinberg des Toren.

In der Antike ist war sie aber auch als Heilpflanze bekannt, die bei Würmern, Vergesslichkeit und Prostatabeschwerden half. Selbst bei der Einbalsamierung der ägyptischen Mumien verrichtete sie wahre Wunder. Asche auf mein Haupt, dass ich aus der Brennnessel bisher nur eine Jauche gegen Läuse angerührt habe.

Aber wir können uns von ihr auch eine Menge abgucken. Sie stellt keine hohen Ansprüche an den Standort, lässt sich nicht so einfach wie Mammut oder Säbelzahntiger ausrotten, sondern wächst selbstbewusst gerade dort, wo man mit dem Rasenmäher längs muss und sorgt für Durchblutung der ungeschützten Körperstellen. Einfach Hut ab, wie sie sich so unwiderstehlich und unterirdisch ausbreitet und nicht vertreiben lässt. Sie lässt sich zudem nicht domestizieren und wie Tomate oder Hausschwein züchten. Die Genmanipulation bekommt bei ihr kein Bein an die Erde. Ein Hoch auf die Schwererziehbare! Außerdem kann man aus ihren abgehäuteten Halmen Spitzenwäsche weben. Kurz: Als giftspritzendes Anarchokraut ist sie die ideale Schutzpatronin und Wappenpflanze der Schriftstellerei.

Summa Summarum: Die Brennnessel ist eine Pflanze mit eigenem Kopf und unverwechselbaren Blättern, die bislang viel zu wenig wertgeschätzt wurde. Wir verdammen unsere geliebten Rambler-Rosen ja auch nicht wegen ihrer Dornen und mangelnden Bienenfreundlichkeit, nein, wir finden sie einfach nur schön. Ich schwöre: Es wird der Tag kommen, da wird Schluss sein mit dem Nessel-Bashing und wir werden aus vollem Herzen rufen:

„Brennnessel, verweile doch, du bist so schön!“

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