Mirjam Pressler liest und erzählt in der Synagoge Wenkheim

8.10.2018

Bisher hatte ich es noch nicht erlebt, dass eine Veranstaltung früher beginnt, als angekündigt. Aber eine Viertelstunde vor dem offiziellen Beginn war der Saal der kleinen Synagoge voll und es ging los. Wir waren »pünktlich«, weil wir die Fahrtzeit überschätzt hatten, eigenartiger Weise, denn wir kannten ja den Weg. Die Autorin saß bereits und signierte Bücher, die gerade vom Tisch gekauft oder mitgebracht wurden. Im Mittelpunkt stand das Buch »Grüße und Küsse an alle« Die Geschichte der Familie von Anne Frank.

Mirjam Pressler erzählte zunächst, wie sie dazu kam, diese Familien-Biografie zu schreiben. Sie hatte abgelehnt, als man es ihr angeboten hatte, denn sie glaubte, schon genug »über Anne Frank gearbeitet zu haben«. Nach einem ersten Besuch in Basel und Besichtigung der auf dem Dachboden entdeckten Briefe war sie jedoch fasziniert und machte sich an die Arbeit. Sie skizzierte kurz die einzelnen Familienmitglieder, las zwei Kindergedichte aus den Briefen vor und erläuterte, wie die in Frankfurt ansässige Familie Frank über Europa verstreut wurde. Dann las sie aus den Briefen, zunächst aus der Zeit vor dem Krieg, dann aus solchen, die kurz nach dem Krieg geschrieben wurden, zum Schluss den Epilog aus dem Buch. Die Briefe nach dem Krieg zeigen erschütternd, wie man auf der Suche nach Familienangehörigen war, immer hoffte, und dann doch zuletzt erfahren musste, dass die Kinder Ottos – Margot und Anne – nicht mehr am Leben waren.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Jeder Teil ist einem bestimmten Familienmitglied zugeordnet. Im ersten ist es Alice Frank, die Großmutter Annes. Der zweite Teil widmet sich Annes Tante, Helene Elias und der dritte Annes Cousin, Buddy Elias. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war letzterer der Einzige, der noch lebte. Seit 2015 ist er inzwischen allerdings auch verstorben. Trotz dieser Fokussierung werden auch die anderen Familienmitglieder bildhaft deutlich, etwa der Vater Otto und sein jüngerer Bruder Herbert. »Die Familie hat viel geschrieben«, sagte Mirjam Pressler am Ende ihrer Lesung. So war es möglich, dass aus vielen Briefen das Lebensbild einer Familie entstehen konnte.

Die »alte Dame« erzählte und las ruhig und souverän. Manchmal war nicht sofort auszumachen, ob sie las oder schon wieder erzählte, was die Stunde sehr kurzweilig machte. Als sich zwischendrin plötzlich ihre »neuzeitliche Uhr« mit einer Musikeinlage meldete, brachte sie das nicht aus der Fassung – wohl aber einen Zuhörer. Die Stühle waren hart, man saß sehr eng, und trotzdem hätte ich noch eine gute Weile  zuhören können. Als ich heute Morgen in der Zeitung las, dass Don McLean in Mannheim vor nicht ausgebuchter Halle gespielt und gesungen hatte, überlegte ich, ob ich nicht gerne auch dort gewesen wäre. Aber eine kurze Rückschau auf die gestrige Lesung sagte mir, dass es so gut gewesen sei. Wer die Möglichkeit hat, eine Lesung der Autorin erleben zu können, sollte sich dies nicht entgehen lassen.

Die Liste der Bücher von Mirjam Pressler ist lang. Es sind überwiegend Bücher für Kinder und Jugendliche, die vor allem in den drei Jahrzehnten nach 1980 erschienen und populär wurden, aber auch solche für Erwachsene. Das Buch über die Familie Frank erschien bereits 2009. Die Stadt Frankfurt machte es im Jahr 2015 zum Mittelpunkt des Lesefestes »Frankfurt liest ein Buch«.

Ihr Horst-Dieter Radke

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