Seit ich 2013 zum ersten Mal in Saint Louis an der westafrikanischen Küste war, träume ich davon, dort einmal meinen Winter zu verbringen und unter afrikanischem Himmel im Charme einer verfallenen Kolonialstadt einen Roman zu schreiben. Im vergangenen Oktober musste ich mir eingestehen, dass ich auch in diesem Winter die meiste Zeit in Deutschland sein werde, und beschloss, wenigstens für ein paar Tage in das kleine Städtchen mit den bunten Häusern zu fahren.
Ich buchte mir ein Zimmer im Hotel du Palais, um in einer Woche im November afrikanische Sonne und Gelassenheit für einen grauen Berliner Winter zu tanken. Darüber, wie ich dorthin kommen würde, dachte ich erst anschließend nach. Natürlich würde ich nicht auf die luxuriöse Art reisen wie beim letzten Mal, als wir auf einer Rundreise zu viert von einem Fahrer und einem Reiseleiter begleitet wurden, die stets dafür sorgten, dass uns die Widrigkeiten afrikanischen Lebens nur marginal behelligten: Stets war das – moderne – Auto vollgetankt, Staus wurden weitgehend umfahren, es war immer genug zu essen da, und wenn die ganze Straße keinen Strom hatte, wohnten wir in einem Hotel mit Stromaggregat. Ibrahim wusste, wo es saubere Toiletten gab, und sorgte für ausreichend Trinkwasser. Diesmal würde ich mich um all das selbst kümmern, wälzte schon mal Reiseführer und fand heraus, dass ich von Dakar nach Saint Louis mit einem öffentlichen Verkehrsmittel – einem Taxibus oder einem „Sept-Places“ – fahren würde und diese Fahrzeuge sehr alt sind.
Nebenbei las ich Gedichte von Léopold Sédar Senghor (1906–2001), dem ersten Präsidenten des seit 1960 von Frankreich unabhängigen Senegal, der außerdem Dichter war. „Wir werden schwelgen, Freundin“ ist eine französisch-deutsche Ausgabe seiner Gedichte, die 1984 im Verlag Volk und Welt (Ost-)Berlin erschienen und antiquarisch gelegentlich noch erhältlich ist. Es gibt auch ein paar West-Ausgaben mit Gedichten und Essays von ihm, aber mich rührt die auf einer Schreibmaschine niedergeschriebene Zusammenfassung aus Ostzeiten der Bibliothek: „Er übt Kritik an den weißen Unterdrückern, setzt sich für den Frieden ein …“ Kein Wort über Senghors umstrittene Rolle als afrikanischer Langzeitpräsident (1960–80), dem Kritiker vorwerfen, Frankreich auch nach der Unabhängigkeit zu viel Einfluss in der ehemaligen Kolonie zugestanden zu haben. „Lauschen wir dem dumpf pochenden Pulsschlag Afrikas im Nebel verlorener Dörfer“, sagt Senghor, und ich fragte mich, ob mir das gelingen würde.
Vorher musste ich noch ein paar Dinge erledigen: Ich buchte einen Flug nach Dakar und ein Zimmer bei Einheimischen – dort lässt sich dem Pulsschlag Afrikas womöglich besser lauschen als in einem Hotel. Ich besorgte mir weitere Bücher senegalesischer Autoren, ließ meine Impfungen auffrischen und las die Reisehinweise des Auswärtigen Amtes: Senegal sei ein Land nahezu ohne Gewaltkriminalität, erzählte ich meiner Mutter am Telefon. Allerdings habe es in letzter Zeit hin und wieder Entführungen von europäischen Frauen gegeben, die angebliche Internetbekanntschaften besuchen wollten und erst nach Zahlung von Lösegeld wieder freigelassen wurden. Das erzählte ich meiner Mutter nicht. Ich wollte keine Internetbekanntschaft besuchen, hatte nur ein Zimmer bei Einheimischen gebucht.
Da ich abends angereist bin, verbringe ich die erste Nacht in einem Hotel. Von dort aus absolviere ich am nächsten Vormittag erste Erkundungsgänge. Die farbenfrohen Gewänder der Frauen und die Sonne zaubern mir ein Lächeln ins Gesicht, das einem Unbehagen weicht, als ich am Generalkonsulat von Frankreich ein Hinweisschild „Schengen-Visa“ entdecke und das Gewimmel von Menschen davor betrachte. Ich bin ohne ein Visum eingereist, wie man es in den meisten Ländern der Erde einfach macht – als Europäerin. Ich besorge mir eine Telefonkarte und Trinkwasser, verlaufe mich im Chaos und Lärm des Verkehrs und finde mein Hotel durch einen glücklichen Zufall wieder. Mit angehaltenem Atem schleiche ich an den in bunten Boubous gekleideten Männern vorbei, die am frühen Nachmittag überall in der Stadt – auf Straßen, Kreuzungen, in Hauseingängen – für ihr Gebet niederknien und die Stadt in einen Ort der Stille und der Andacht verwandeln. Kurze Zeit später, als die Straßen nach dem Freitagsgebet wieder von ständig hupenden Autos verstopft sind, stehe ich mitsamt meinem Gepäck dort, wo laut meiner Karte und Adressangabe mein Privatquartier sein soll. Nur gibt es in der Rue de Essart keine Nummer 22. Wenigstens steht vor einem nach Bank aussehenden Gebäude ein Wachmann, der sich hilfsbereit zeigt und zur Unterstützung einen Fußgänger heranwinkt. Dem Mann im hellblauen Boubou vertraue ich sofort. Worüber ich froh bin, denn ich weiß gerade nicht, ob für den Anbieter meines Privatquartiers das Gleiche gilt. Bin ich einem Betrug aufgesessen? Aber da ich noch nichts bezahlt habe, kann das nicht sein. Zu dritt diskutieren wir eine Weile, dann wähle ich die angegebene Telefonnummer. Am anderen Ende der Leitung nimmt eine Frau ab und überschüttet mich mit einem Schwall Französisch, dessen Tempo dem meiner Pariser Freunde gleicht und das vom typisch afrikanischen Akzent durchsetzt ist. Für einen Moment sehne ich mich in das komfortable Hotel zurück, ehe ich das Telefon an den Mann meines Vertrauens weiterreiche. Er übersetzt: Ich müsse zum „Monument de la Renaissance Africaine“ fahren und dann noch einmal anrufen, dort würde ich abgeholt werden. Das sei doch am anderen Ende der Stadt, protestiere ich, aber das Telefonat ist schon beendet. Mein Retter in Hellblau ruft ein Taxi, handelt einen guten Preis für mich aus, sorgt dafür, dass ich mein Gepäck vollständig mitnehme, und bleibt stehen, bis sich das Taxi in den Freitagnachmittagsverkehr einfädelt.
Der Pulsschlag Afrikas ist eine Autohupe, die der Taxifahrer vorsorglich etwa alle dreißig Sekunden betätigt. Und das „Monument de la Renaissance Africaine“ ist mit einer Höhe von neunundvierzig Metern das größte Monument Afrikas. Ich habe es am Abend zuvor schon kopfschüttelnd betrachtet – es ist gigantisch, sowohl in Größe als auch stilistisch.
Dort angekommen, telefoniere ich erneut und verstehe, dass der Bruder der Vermieterin jeden Moment hier sein und mich abholen wird. Ob er mich erkennen wird? Vermutlich, denn ich bin die einzige Weiße. Kurze Zeit später stürzt tatsächlich ein junger Mann auf mich zu und stellt sich als Nar vor. Es sei nicht weit, sagt er, aber wir würden trotzdem mit dem Auto fahren. Entführung, flüstert eine Stimme in meinem Hinterkopf, aber Nar hat meinen Rucksack bereits im Kofferraum verstaut und sieht eigentlich vertrauenswürdig aus. Außerdem habe ich nicht wirklich eine Wahl – irgendwo in Dakar, erschöpft und der Sprache nur halbwegs mächtig.
Lauschende Grüße
Ihre Dorrit Bartel