Reisen und Lesen im Senegal, Teil 2: Gastfreundschaft am Fuße des Monuments

Der Blick von der Dachterrasse meiner Gastgeber ist fast so gut wie vom Hotel; mein Zimmer in der Erdgeschosswohnung mit Bett und Tisch allerdings viel spartanischer eingerichtet, und die Dusche hat kein warmes Wasser. Yacine, Nars Mitbewohnerin, bereitet gerade riesige Mengen Couscous für eine Abschiedsparty zu, denn morgen wandert sie in die USA aus. Weil sie dazu alle Gemeinschaftsräume im Erdgeschoss besetzt, nehme ich Nars Einladung auf die Dachterrasse gern an.

Blick vom Hotel – mit Präsidentenpalast
Blick von meinem neuen Quartier

Von oben sehe ich Hütten aus Wellblech und eine aus Pappkarton, viele halb fertige und einige fertige mehrstöckige Häuser sowie dazwischen einen Esel und ein Pferd, die am Straßenrand angepflockt sind. Ein ganz normales Viertel in Dakar, vermute ich.

Wir trinken Bier; obwohl sich die Mehrzahl der Bewohner des Senegal zum Islam bekennt, bekomme ich überall Bier und es stört auch niemanden, wenn ich welches trinke. Während das Nachmittagslicht in Dämmerung und schließlich in Dunkelheit übergeht, finden sich auf dem Dach Khady, Nars Schwester, weitere Hausbewohner und ein paar Freunde ein. Khadys Sohn Mohammed tapst mit dem Lächeln des Kindes, das sich geliebt weiß, von einem Gast zum nächsten. Zur Vertrauensbildung schneide ich eine Grimasse, auf die er glucksend antwortet, ehe er sich wieder hinter seiner Mutter versteckt. Khady bringt mir ungefragt einen Teller Reis mit Huhn. Ich bin froh, denn ich bin viel zu müde, um noch zum Essen auszugehen. Und auch zu müde, mich darüber zu wundern, wie schnell ich in die Gemeinschaft dieser Leute aufgenommen wurde, die ich drei Stunden zuvor noch gar nicht kannte.

Später im Erdgeschoss bekomme ich noch einmal ungefragt Essen: Couscous mit Hühnchen. Ich hocke mich zu Yacines zwanzig oder dreißig Gästen, die auf abgenutzten Sofas oder auf dem Boden sitzen, leise miteinander reden und essen. Hier gibt es keine lauten Stimmen, kein dröhnendes Lachen, man unterhält sich einfach leise und dennoch angeregt. Vielleicht liegt es daran, dass niemand Alkohol trinkt. Keiner spricht mit mir, nur einige Kinder mustern mich scheu und bald darauf lasse ich mich vom Stimmengemurmel aus der Halle in tiefen, ruhigen Schlaf begleiten.

Am nächsten Morgen bietet Nar sich als Begleiter für einen Tagesausflug nach Ngor an. Die kleine Insel vor Dakar wird sowohl von Touristen als auch von Einheimischen zur Erholung besucht.

Mit einer kleinen Piroge setzen wir vom Festland über. Mit einem ähnlichen, etwas größeren Boot sind nicht weit von hier die Helden des Buches „Die Piroge“ nach Europa gestartet. Vom Autor Abasse Ndione, heißt es, er würde seine Bücher zunächst auf Wolof (der am weitesten verbreiteten Stammessprache im Senegal) entwerfen und anschließend ins Französische übersetzen – die meisten senegalesischen Autoren schreiben direkt auf Französisch. „Die Piroge“ würde ich mit seinen ca. 65 Seiten keinen Roman nennen, aber mich hat die Erzählung über die dreißig Menschen, die von Dakar aus ihren Weg nach Europa antreten, berührt. Sparsam umreißt Ndione die Gründe der einzelnen Reisenden, die mutig den Weg in eine verheißungsvolle Zukunft starten. Übers Meer, obwohl die meisten von ihnen nicht einmal schwimmen können. Beinahe geht alles gut, tagelang bleiben Wetter und Stimmung stabil, ehe das Schiff knapp vor dem Ziel Europa von einem Sturm heimgesucht wird. „Die Piroge“ ist übrigens auch verfilmt und mit vielen europäischen Filmpreisen bedacht worden.

Da mein Französisch allmählich wieder konversationstauglich wird und Gazelle, das heimische Bier, die Zunge löst, erfahre ich mehr über Nar, der erst kürzlich zurückgekehrt ist. Fünfzehn Jahre hat er in Frankreich gelebt, die Papiere für die Familie hat sein Großvater für seinen Kampf im Zweiten Weltkrieg an der Seite Frankreichs gegen die Deutschen bekommen. In Toulouse hat er gearbeitet, war verheiratet und hat seine Eltern und Geschwister vermisst. Jetzt vermisst er seine Tochter. Aber er will sich hier im Senegal wieder ein Leben aufbauen, nach der Scheidung, über die er nur sagt, dass sie sehr schmerzhaft war. Es tue dem Land gut, dass Leute wie er nach und nach zurückkehren und ihre Erfahrungen in das Land zurückbringen, sagt er optimistisch. Über sein Leben in Frankreich erzählt er wenig, aber das tut Fatou Diome in „Der Bauch des Ozeans“. Die senegalesische Einwanderin in Frankreich schaut sich jedes große Spiel des italienischen Fußballers Maldini an, nicht etwa, weil sie selbst Fan ist, sondern weil sie so ihrem kleinen Bruder Madické zu Hause nah sein kann, während sie sich innerlich immer mehr von ihrem Heimatland entfernt. Sie arbeitet hart und spart viel Geld, das sie Madické schickt, um ihn davon abzuhalten, sich selbst auf den Weg nach Europa zu machen. Denn der will Profifußballer werden, wie sein großes Idol Maldini und wie so viele seiner Freunde. Seine Vorstellungen von Europa sind die von einem gelobten Land – aber wie soll er es besser wissen? Das Buch erzählt von den Träumen jener, die sich nach Europa sehnen, und davon, wie diese Träume entstehen. Zugleich macht es die Entfremdung jener fühlbar, die es dorthin geschafft haben, Geld nach Hause schicken und allmählich ihre Illusionen verlieren, ohne zu Hause davon erzählen zu können. Das alles erzählt Fatou Diome mit wunderbarer Leichtigkeit.

Nar scheint sich nach seiner Rückkehr aus Frankreich nicht fremd zu fühlen, er strahlt ungebrochenen Optimismus und große Freundlichkeit aus, die sich leicht überträgt. So am späten Nachmittag, als er die mit Maschinengewehren bewaffneten Soldaten grüßt. Sie stehen zur Sicherheit vor dem Präsidentenpalast, aber auch auf der Corniche. Der Anblick bewaffneter Männer fördert mein Sicherheitsgefühl nicht. Trotzdem schließe ich mich Nars Gruß an. Für „Salem Aleikum“ bin ich nicht gläubig genug, aber mein „Bonsoir“ tut es auch. Der wachsame Ausdruck auf den Gesichtern der Männer weicht für einen Moment einem Lächeln. „Aleikum Salam.“

Geschützte Grüße
Ihre Dorrit Bartel

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