Reisen und Lesen im Senegal, Teil 4: Vom Charme des Verfalls

Am nächsten Tag reise ich nach Saint Louis, dem eigentlichen Ziel meiner Reise. Ich bin froh, dass Nar mich zum Gare Routiere, dem Busbahnhof, begleitet und für mich die Auswahl eines Fahrzeugs übernimmt. Nicht dass es viel zu wählen gäbe: Alle Autos sind mindestens dreißig, vermutlich eher vierzig Jahre alt, keines hat eine intakte Windschutzscheibe. Ich erwähne Nar gegenüber den Unfall mit über zwanzig Toten, von dem ich während meiner Reisevorbereitungen gelesen habe. Er ereignete sich kürzlich auf dieser Strecke. Er erwidert: „In Deutschland gibt es auch Unfälle, jedenfalls habe ich das schon einmal in einer Zeitung gelesen.“ Touché.

Am Busbahnhof ist es laut, Autos rangieren in Schlangen hin und her, auf Handkarren wird Gepäck transportiert, und von der Marktfrau im mehrfach geflickten Kleid über den scheinbar gelangweilten Jugendlichen bis zum distinguierten älteren Herrn in feierlichem Boubou finden sich hier Fahrgäste aus allen Schichten. Sobald ein Auto seine Position einnimmt, rennen die potenziellen Mitfahrer dorthin, um die besten Plätze zu ergattern. Immer wieder gibt es Streit darum, wer auf der Mittelbank sitzen darf und wer auf die hintere Bank mit den unbequemen Plätzen verbannt wird. Gestritten wird je nach Temperament laut keifend oder mürrisch maulend, immer aber auf Wolof, das mit so vielen französischen Worten durchsetzt ist, dass ich die ganze Zeit denke, ich müsste es verstehen. Mit Nars Hilfe sichere ich mir einen Fensterplatz in der mittleren Reihe, doch erst eine Stunde später geht es los. Zunächst nur ein paar Meter, dort wird noch Ladung auf das Dach geworfen. Mit jedem Stück, das oben landet, sinken die Achsen etwas tiefer, und meine Zweifel wachsen: Fährt dieses Auto überhaupt irgendwohin? Der Fahrer selbst scheint dessen sicher, allerdings macht er den Motor – nachdem der einmal nach mehreren Versuchen angesprungen ist – nicht mehr aus. Nicht, während geladen wird, nicht während der Polizeikontrollen an der Strecke, nicht während der einzigen Pinkelpause, die wir einlegen, weil der kleine Junge, der hinter mir sitzt, ein dringendes Bedürfnis verspürt. Ich trinke vorsorglich nur kleine Schlucke aus meiner Wasserflasche, da ich mir hier keinen Busch suchen will. Von denen gibt es in der Savanne nämlich nur sehr wenige. Vor dem Fenster ziehen weite, sandige Flächen vorbei, auf die jemand hier und da einen Baum oder Busch getupft hat. Sobald wir durch Dörfer fahren und langsamer werden – weil eine Polizeistreife winkt oder eine Herde Ziegen über die Straße trabt – umringen Händlerinnen das Auto, bieten Erdnüsse, Orangen oder Wasser in Plastiktüten an und lassen trotz unseres energischen Kopfschüttelns erst von uns ab, wenn der Fahrer wieder Gas gibt. Wir reden nicht miteinander, alle starren vor sich hin und warten, bis diese Tortour vorbei ist. Für ein Gespräch ist es auch viel zu laut, der Fahrtwind pfeift uns durch die offenen Fenster um die Ohren. Fünf Stunden. Die ersten zwei bin ich noch neugierig auf die Gegend, auf die Menschen, die ich in den Dörfern sehe, auf alles. Doch nach zwei Stunden Fahrt vorbei an immer gleichen rötlich-gelben Sandfeldern und durch scheinbar immer wieder dasselbe Dorf mit ein paar Hütten und verzweifelten Händlerinnen wünsche ich nur noch, endlich anzukommen – meine Beine möchten sich bewegen, und mein Rücken beschwert sich über das lange unbequeme Sitzen. Bei einem Schlenker schwappt eine rote Flüssigkeit von der Ladung auf dem Dach über meinen Arm und meine Hand, in einem Schwall, von dem sogar der Mann neben mir noch etwas abbekommt. Kurz gibt es Aufregung, aber wegen einer solchen Lappalie hält der Fahrer nicht an. Ich wische mir die Flüssigkeit ab und schnuppere: Farbe, Rotwein oder Blut eines frisch geschlachteten Tiers? Ich nehme mir fest vor, dem Rätsel bei Ankunft in Saint Louis auf den Grund zu gehen, aber als das Auto uns dort endlich ausspuckt, bin ich so froh, meine Gliedmaßen wieder bewegen zu dürfen, dass ich es vollkommen vergesse.

Das Hotel hat – wie die Stadt Saint Louis – seine besten Zeiten hinter sich. Überall in der Stadt zeigt sich der Verfall, mit dem man hier einfach lebt. Das Obergeschoss eines Hauses ist eingestürzt? Dann nutzt man halt nur das Erdgeschoss. Doch das Zimmer im Hotel ist groß und hoch, es gibt warmes Wasser aus der Leitung, das Moskitonetz ist ganz, und der Hotelbesitzer, ein behäbiger, freundlicher Franzose, lässt es sich nicht nehmen, jeden Gast nach seiner Zufriedenheit zu befragen. Vom Balkon aus blicke ich auf ein Gebäude, das irgendwie offiziell aussieht, dessen Eingangsschild jedoch so von Blumen in schönstem Rot überwuchert ist, dass ich nicht erkenne, was es ist.

Erst an einem der nächsten Tage wird mir klar, dass es das Gericht ist. An einem Morgen werden Gefangene vorgefahren – sechs in fröhlich-farbige Boubous gekleidete Männer, die jeweils zu zweit in Handschellen aneinandergebunden sind, werden in den Hof geführt. Einer von ihnen könnte Bakar Diop sein, der Held in Aminata Sow Falls Roman „Die wundersame Verwandlung des Bakar Diop“. Bakar tut alles für seine Frau, doch leider sind seine finanziellen Mittel beschränkt, und er weiß sich keinen anderen Ausweg als Unterschlagung. Als er nach Monaten im Gefängnis wieder nach Hause kommt, hat seine Frau einen anderen, und – was noch viel schlimmer ist – seine Lieblingsschwester spricht nicht mehr mit ihm. So von allen geächtet und ohne Chance auf einen neuen Job, greift er zu einer pfiffigen List, um wieder zu Geld zu kommen. Aminata Sow Fall ist in Saint Louis aufgewachsen, lebt heute in Dakar und ist eine der großen alten Damen der senegalesischen Literatur. Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass ich in Saint Louis „Der Sonnenpräsident“ von ihr lese und über den Hotelfernseher erfahre, dass in Simbabwe gerade Präsident Mugabe unter Hausarrest gestellt und damit das Ende seiner über dreißigjährigen Herrschaft eingeleitet wurde. Bei Sow Falls tritt der Präsident eines fiktiven afrikanischen Landes freiwillig zurück, nachdem er erkannt hat, dass er seine ursprünglich besten Absichten nicht durchsetzen kann. Er wollte sich für die Menschen seines Landes einsetzen und hat sich – überfordert von der Komplexität seiner Aufgaben – auf falsche Berater eingelassen. Sein Rücktritt wird für ihn persönlich zur Tragödie, aber vor allem für das Land und seine Bewohner, die nämlich einem Nachfolger ausgeliefert sind, der sich nicht um die Interessen seiner Bürger schert. Der Roman liefert einen winzigen Baustein für die Antwort auf die Frage, warum in afrikanischen Staaten so viele Dauerpräsidenten herrschen und kaum einer freiwillig von der Macht lässt. Überhaupt stellt Aminata Sow Falls sich in ihren Romanen den gesellschaftlichen und sozialen Fragen afrikanischer Staaten im Widerspruch zwischen traditionellem Leben und westlichen Einflüssen. Für mich, die Europäerin, ist es spannend, wenn auch manchmal unbequem, von diesen Widersprüchen aus der Sicht einer Afrikanerin zu lesen.

Weil ich auf die Sicht der Afrikaner neugierig bin, darauf, was sie mir erzählen und von ihrem Land zeigen, sage ich zu, als Nar am nächsten Morgen anruft und mir seine Begleitung für die nächsten Tage anbietet. Er kommt am Nachmittag an, und tatsächlich sehe ich Saint Louis durch ihn mit anderen Augen. Er führt mich in ein Kulturzentrum, das ich ohne ihn nie gefunden hätte und in dem eine französische Freundin von ihm gemeinsam mit einigen Einheimischen an einem Projekt arbeitet, geduldig und positiv, wie er immer wieder betont. Wenn Kinder mir „Toubab, Toubab“ („Weiße“) nachrufen, verblüfft Nar sie, indem er ihnen mit „Nuulai“ („Schwarze“) antwortet. Einmal deutet eine Frau mit energischem Kopfschütteln auf meine Kamera. Er beschwichtigt die Frau, doch fortan fotografiere ich nur noch vorsichtig. Auf einem Markt, auf dem ich die einzige „Toubab“ bin, drücke ich ihm die Kamera in die Hand, mit der Bitte, ein paar Fotos zu machen. Was er – wie ich finde – ziemlich gut macht.

Ich selbst lasse mich treiben und überwältigen von den Gerüchen der Gewürze, Früchte und Fische, dem Stimmengewirr, in das sich Pferdegetrappel mischt, und von den leuchtenden Farben der Kleider, der Häuser und des Himmels.

Schauende Grüße
Ihre Dorrit Bartel

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