Ruth unter den Rosen

Ich habe einen braunen Daumen. Den Grünen vererbte meine Tante meiner Schwester. Aber sie gab mir Rat und Pflanzen aus dem eigenen Garten, damals, als ich noch in dem maroden Zechenhaus wohnte, zu dem ein Stück „Grabeland“ gehörte. Spieren, Steinnelken, Aronstab und Phlox, denn es gab sonnige bis schattige Plätzchen. Doch außer den Steinnelken gedieh nur der Giersch.

Schon längst habe ich das zugige Zechenhaus mit dem Grabeland verlassen, bin seitdem Balkonmensch. Bis vor kurzem Südbalkon, neuerdings Nord-West-Ausrichtung. Ohne den Rat meiner Tante ist alles Grüne und Blühende zu einem frühen Tod verurteilt. Aber Rat kann ich mir seit Jahren nicht mehr von ihr holen; bevor sie starb, gab meine Tante sich dem Vergessen hin, selbst an Rilkes Gedichte erinnerte sie sich zum Schluss nicht mehr. Also frage ich P., meine Schwägerin. Auch sie hat einen grünen Daumen. Von wem sie den geerbt hat? „Von mir hat meine Tochter den nicht“, hat Ruth immer gesagt.

Ich habe P. unlängst besucht. Ihr Garten blüht mit dem meiner Schwester um die Wette und jedes Mal, wenn ich P. besuche, ist da etwas Neues. Ein Hochbeet, weil „die Hortensien ertrinken mir sonst, wegen des Tiefs[1] dort unten“.

Hortensien. Dazu hat sie mir auch geraten, denn die mögen den Schatten. „Nein, keine blauen“, meinte sie. „Da müsstest Du nächstes Jahr mit Spezialdünger ran, sonst werden die rosa. Nimm also am besten gleich rosa Hortensien“. Aber blaue mag ich viel lieber, mault es in mir. Vielleicht liegt es daran, dass ich Rilkes „Blaue Hortensie“, auch lieber mag als seine „Rosa Hortensie“?

So wie das letzte Grün in Farbentiegeln
sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh,
hinter den Blütendolden, die ein Blau
nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln.

Die beiden Hortensien-Gedichte hat mir meine Tante beigebracht.

„Es gibt da spezielle Züchtungen, die nicht so empfindlich sind, was das Schneiden anbelangt. Nimm auf keine Fall Bauernhortensien, sondern Rispenhortensien, die kann man radikaler zurückschneiden“, reißt P. mich von Rilke weg.

Wir schlendern weiter zu den Rosen und erinnern uns, wie gerne Ruth, hier immer saß. Als der Februar ihr vor zwei Jahren zu lang wurde, sagte sie: „Wie freue ich mich auf den Frühling und den Sommer! Wenn P. mich dann holt, mit mir ans Meer fährt, und nachmittags trinken wir Kaffee in ihrem schönen, schönen Garten!“ Der Frühling kam, aber Ruth ging.

Wieder ist es Sommer und die Rosen blühen und duften und rufen uns: Es Zeit, bei ihnen zusammenzusitzen, Ruth ganz nah, deren Asche wir hier unter den geliebten Rosenbüschen, begraben haben.[2]

Ihre Paula Lankow


[1] Auch niederdeutsch Deep: Fließendes Gewässer zum Meer hin, dessen Sohle unter dem mittleren Meeresspiegel liegt.

[2] In bestimmten Gegenden möglich.