Schietwetter und Radieschensamen

Kristins Schietwettergeschichte

Damals ‒ wir waren noch nicht lange ein Paar ‒ hatte Lisbeth sich angewöhnt, mir abends vorzulesen. Ich genoss die halbe Stunde, auch wenn ich mir manchmal vorstellte, meine Kollegen vom Bau drängten sich an der Tür von Lisbeths Studentenbude zusammen, die ganze stumm glotzende Horde in voller Montur. Ich lag, den Blicken ausgesetzt, auf Lisbeths altem Klippan-Sofa, selbstvergessen lauschend, im Nacken ein Kissen und die Sockenfüße im Schoß meiner Süßen.

An einen der Vorleseabende erinnere ich mich in besonderer Weise. Lisbeth hatte eines ihrer geliebten Kinderbücher hervorgekramt. Der Einband war zerkratzt, der Rücken verzogen, der Schmöker fast so alt wie sie selbst und voller launiger Geschichten darüber, wie in frühen Zeiten dieses oder jenes entstanden war: Bei der Ausstattung des Marienkäfers waren noch ein paar hübsche Punkte übrig gewesen, während der Igel als Letzter kam und sich, statt ein weiches Fell zu erhalten, mit einer Handvoll Borsten aus der Besenkammer der Evolution begnügen musste; das Prinzip der Geschichten erschloss sich rasch.

Ich hatte gekocht, wir hatten gegessen, chinesisch, weiß ich noch. Draußen rauschte der Regen und verwandelte den Garten der Freifrau von und zu Vermieterin in einen Dschungel aus verwaschenem Graugrün. Hier drinnen vermischte sich der Duft von Hühnchen, Morcheln und Sojasoße mit dem von nassem Gras, der durchs offene Fenster hereindrang. Wir hatten eine Flasche Chianti geöffnet ‒ und sie, sie hätte mir die Aufbauanleitung von Klippan vortragen können, es wäre mir egal gewesen, nur lesen sollte sie, lesen.

In ihrer Geschichte ging es um einen schrumpeligen Pflanzensamen, der irgendwie in eine achtlos in den Wald geworfene Flasche geraten war, was mir einigermaßen konstruiert erschien, als Ausgangsszenario aber immerhin denkbar war. Es wurde Winter, der kleine Samen schlief ein, keimte zart in der Dunkelheit seines gläsernen Gehäuses … und hier verlor ich, obwohl es sich doch um eine vergleichsweise einfache Kindergeschichte handelte, den Faden. Es musste mit Lisbeths Stimme zu tun haben, die mit dem Rauschen des Regens vor dem Fenster eins und zu etwas silbrig Fließendem wurde. Mit der weichen Entspanntheit ihrer Lippen, die ich so nur kannte, wenn sie still für sich oder eben mir vorlas, oder mit der Linie ihres Rocksaums, dort, wo ein Streifen ihres beinahe weißen, aber herrlich festen Oberschenkels ‒

Sie schaute auf. „Was machst du da eigentlich?“

„Nichts“, sagte ich. „Ich bin ein Handwerker in der Nacht mit einem geheimen Auftrag, dies hier ist eine finstere Gegend, und ich muss mich sehr langsam und sehr behutsam vortasten.“

„Oh?“, machte sie.

„Aber ja!“, sagte ich. „Ziemlich gefährlich, meine Süße, aber lass dich nicht stören, lies nur weiter.“

Und das tat sie. Tapfer fuhr sie fort, verhaspelte sich höchstens ein- oder zweimal und begann dezent in ihrer Sofaecke hin und her zu rutschen.

Ich riss mich zusammen und hörte wieder zu. Inzwischen war im Wald um die Flasche herum der Frühling erwacht. Auch der kleine Pflanzensamen erwachte und drängte zum Licht. Nun aber die Überraschung: Während des Winters war der Samen gewachsen und zu einem großen, runden Radieschen geworden (oder jedenfalls zu einem radieschenartigen Wesen, ganz genau erinnere ich es nicht mehr), das fast den ganzen Flaschenbauch ausfüllte. Das dicke Gemüse musste sich, um in die Freiheit zu gelangen, durch den engen Flaschenhals zwängen und kam ‒ richtig: als prächtige Schlange heraus.

„Und so sind die Schlangen entstanden“, schloss Lisbeth und klappte das Buch zu.

Ein rechter Schwachstrom, wenn man ganz ehrlich war. Aber dann wieder nicht völlig ohne Charme. Und ich beeilte mich zu beteuern, dass mir die Geschichte gut gefallen habe. Auch mir wurde es manchmal zu eng, nicht wahr, viele von uns kannten das, und deswegen, sagte ich, könne ich mich mit dem Radieschen gut identifizieren.

„Na denn“, Lisbeth lachte.

„Oder mit der prächtigen Schlange“, sagte ich. Ich nahm ihr das Buch aus der Hand und legte es auf den Tisch.

Bummelige dreißig Jahre muss das nun her sein. Es war nicht selten, dass an unseren Leseabenden eines ins andere überging. Warum mir gerade diese Geschichte nie aus dem Kopf gegangen ist? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass Lisbeth mir seit Ewigkeiten nicht mehr vorgelesen hat ‒ und dass ich jetzt beim Aufschreiben Lust darauf bekomme, dass sie und ich heute Abend endlich mal wieder etwas für unsere Bildung tun.

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