Schreibklausur (oder: Ein Wunder namens Inspiration)

Schietwettergeschichte von Tom Liehr

Heute Nacht wurde von Sommerzeit auf Normalzeit umgestellt, oder auf Winterzeit, wie viele sagen, obwohl das Blödsinn ist. Aber es ist jetzt also Winter, oder seine Ouvertüre. Ich bin um sieben Uhr Sommerzeit aufgewacht und habe mich dann dazu gezwungen, noch mindestens eine Stunde weiterzuschlafen, deshalb bin ich jetzt wieder müde – es ist halb neun, Normalzeit, also halb zehn Uhr Sommerzeit, und um mich herum wuseln die Menschen, die in diesem Hotel ein Wochenende lang Wellness machen und jetzt frühstücken möchten. Vielleicht sind es so viele, weil sie heute Nacht eine Stunde gratis hier wohnen durften. Die meisten sind am Freitagnachmittag angereist und werden gegen elf – Normalzeit – auschecken, dann wird es hoffentlich ruhiger, aber ich werde auch einen kleineren Fundus zur Verfügung haben, aus dem ich abends an der Bar Nebenfiguren für meinen Roman abgreifen kann, an dem ich hier arbeite.

Wenige Minuten nach meinem Eintreffen bildete sich eine Schlange am Eingang des Restaurants, eine Schlange, die normalerweise erst nach neun entstehen würde, aber heute  sind alle ein bisschen aus dem Tritt, und manch einer mag vor lauter Wellnesswohlgefühl die Umstellung sogar verpasst haben. Uhren und Wecker gibt es in den Zimmern nicht.

Ich mag Buffets nicht, und ich kompensiere meine Frühstücksablehnung dadurch, dass ich mir kurz nacheinander vier Kannen Kaffee bringen lasse (Frühstück ist im Zimmerpreis enthalten, das kann man nicht wegbuchen). Dazu esse ich Minicroissants, auf deren Rückseite ich Butter und Nutella schmiere, beides aus klimakillenden Portionspäckchen. Ein Fünfjähriger beobachtet mich neidisch vom Nachbartisch aus, vor ihm liegen ein Käsebrot und ein kleiner Haufen Früchte. Scheiße, ja, Nutella wird mit Palmöl hergestellt, ich holze also gerade außerdem den Regenwald ab, aber es gibt kein Nudossi, diesen ehemaligen Ost-Nachbau von Nutella, der heutzutage mit dem hohen Haselnussanteil und dem Fehlen von Palmöl beworben wird. Zu Hause haben wir das, obwohl ich eine Abneigung gegen Produkte habe, die mit dem Fehlen bestimmter Inhaltsstoffe beworben werden, aber zu Hause esse ich keine Minicroissants mit Nussnougatcreme zum Frühstück. Zu Hause frühstücke ich überhaupt nicht, sondern trinke nur diese Riesentasse leer, die mir mein Sohn vor drei Jahren zum Geburtstag geschenkt hat, ein selbstbemalter Halbliter-Keramikbecher, aber die Geschirrspülmaschine hat inzwischen viel von seiner Kunst abgetragen. Ich liebe diese Tasse trotzdem, vor allem, wenn sie frisch gebrühten Kaffee enthält. Jetzt vermisse ich sie; ich hätte sie mitnehmen sollen. Schreibklausur ist effektiv, aber auch einsam. Immerhin werden wir uns nachher per Facetime sehen.

Ich schaue eine Weile aus dem Fenster und spüre, wie ich dabei missmutig werde. Das Wetter gefällt mir nicht, es ist uninspirierend, eigentlich aber total deprimierend. Die Wolken sind aschgrau und hängen tief über dem großflächigen See, auf dem kein einziges Boot zu sehen ist. Über die Wiese zwischen Hotel und Seeufer geht ein Mann im blauen Overall, der sich seitlich gegen den auflandigen Wind vorarbeitet und einen gelben Plastiksack hinter sich herzieht (Drama in der Honeymoon-Suite?). Ich wende mich wieder den anderen Gästen zu und beobachte die rosagesichtige, schwarzhaarige Frau in den Sechzigern, die mir gestern Abend schon aufgefallen ist, weil sie ein überwiegend schwarzes, knielanges Kleid trug, das aus einiger Entfernung aussah, als hätte es lauter handtellergroße Löcher, durch die man ihre rosafarbene Körperhaut sehen konnte, aber als sie dann näher kam, entdeckte ich, dass es sich um verdammte Flamingos handelte, Flamingos im Flug, die man auf den schwarzen Stoff gedruckt hatte. Sie trägt das Kleid jetzt wieder, zum Frühstück, also ist es ihr Lieblingskleid oder sie hat kein anderes dabei oder sie ist überhaupt kein Hotelgast, sondern von einem abgeschleppt worden, aber das ist kaum denkbar. Oder doch? Aber wie kann man nur ein schwarzes Kleid mit Flamingos bedrucken? Und so etwas auch noch kaufen und anziehen? Die Frau ist in Begleitung einer größeren Gruppe, aber offenbar sagt ihr keiner, wie dämlich das aussieht. In ein paar Tagen ist Halloween, vielleicht trägt sie den Fummel auch nur zur Probe: Aus einiger Entfernung gehen die Flamingos nämlich auch als rosa Fledermäuse durch.

Ich beende die vierte Kanne, schnappe mir mein iPad und achte darauf, den schweineteuren Stift nicht zu vergessen, den ich mir kürzlich dazu gekauft habe. Ich liebe diesen Stift. Normalerweise schleppe ich ein Moleskine mit mir herum, wenn ich in Schreibklausur bin, aber mit GoodNotes und diesem Stift und dem iPad ist es irgendwie cooler, weil ich meine Sauklaue sofort wieder korrigieren kann, wenn sie zu säuisch wird, und die Schrifterkennung der Software macht sogar noch etwas Sinnvolles daraus, wenn ich selbst kaum mehr entziffern kann, was ich da nachts an der Bar notiert habe. Andererseits konnte ich das Moleskine auch gefahrlos in den Spa-Bereich mitnehmen und bei meinen Flipflops liegen lassen, während ich in der Sauna lag und über Szenen nachdachte, das geht mit dem iPad nicht mehr. Irgendwas ist ja immer. Ich hätte das Notizbuch zusätzlich einpacken sollen, und notiere mit GoodNotes für die nächste Schreibklausur: Kaffeebecher, Moleskine. Der Fünfjährige grinst mich an und löffelt eine Kiwi aus.

Mein Zimmer ist so riesig, dass ich darin meine Drohne fliegen lassen könnte, was draußen gerade nicht geht, weil das Wetter so scheiße ist. Als ich mein Gepäck hier hereingestellte, war ich in Sorge, dass man mir versehentlich ein falsches Zimmer gegeben haben könnte. Das ist mir und meiner Familie vor ein paar Jahren während der Herbstferien in Alcudia passiert, da bezogen wir ein herrlich großes Zimmer mit direktem Meerblick und einem gewaltigen Bad mit Doppelhandwaschbecken. Wir hatten „last minute“ gebucht und also nicht ganz genau auf die Ausstattung geschaut, was man im Hotel am vierten Tag für uns nachholte. Am Morgen dieses vierten Tages bekamen wir diesen Anruf, wir müssten jetzt umziehen, da wir im falschen Zimmer wären, und an der Rezeption, wo ich zum Protestieren hinging, zeigte man mir sogar einen Lageplan, auf dem angeblich deutlich zu sehen war, dass das Haus, in dem unser derzeitiges Zimmer lag, eigentlich für Leute vorgesehen war, die viel mehr als wir bezahlt hatten. Aber das war mir egal, und ich inszenierte einen lautstarken Streit, der von Erfolg gekrönt wurde, uns allerdings für den Rest des Aufenthalts mit der Sorge ausstattete, unsere Koffer wären weg, wenn wir vom Strand ins Zimmer kämen, umgestellt in das richtige, zu Leuten wie uns passende Zimmer. Waren sie aber nicht.

Dieses Zimmer allerdings ist kein Irrtum, es ist einfach groß, was dem Schnitt der Etage geschuldet ist, in der es an der Ecke liegt, wodurch ich einen begehbaren Kleiderschrank habe, in dem sich die acht T-Shirts, aus denen mein Kleidungsgepäck überwiegend besteht, etwas verlieren. Ich sehe den jetzt grauen See, dafür habe ich keine Loggia und keinen Balkon, aber beides brauche ich auch nicht, denn es ist Ende Oktober. Vor acht Jahren war ich zum ersten Mal hier in Schreibklausur, da haben die Zimmer noch die Hälfte gekostet, und an der Decke der Loggia, auf der ich kaffeetrinkend saß, auf den See starrte und über die Leichtmatrosen nachdachte, von denen eine Biergartenszene später genau an der gegenüberliegenden Seeseite verfilmt werden würde, hatten kleine Vögel, die ich für Meisen hielt, kunstvolle Nester gebaut. Es war ein ziemliches Gezwitscher, das Wetter war herrlich, und ich hatte keine Mühe damit, mir vorzustellen, wie sich die Jungs auf dem Hausboot fühlten, bei strahlendem Sonnenschein und um die dreißig Grad plus.

Das ist jetzt anders. Das Hotel war seither meines Wissens mindestens einmal pleite und wurde marginal umbenannt, dabei galt es früher als spektakuläres Vorzeigeobjekt in der Region, irgendwann hat hier ein internationales Gipfeltreffen stattgefunden, und es gibt sogar Beschilderung an der nahe gelegenen Autobahnausfahrt, wenn man den Berliner Ring verwendet, was ich nicht getan habe, weil das ein Umweg gewesen wäre. Es regnet und stürmt, deshalb gehe ich heute Morgen auch nicht joggen. Gestern habe ich das gemacht, da war ich noch overdressed mit meiner leichten, aber isolierenden Jacke über dem Laufshirt, weshalb ich geschwitzt habe wie ein Asphaltarbeiter, der im Hochsommer neuen Straßenbelag auftragen muss. Heute Morgen sind nur elf Grad plus, die Tropfen rinnen die Scheiben der vier großen Fenster hinauf und herunter, die mein Zimmer hat, zwei davon beiderseits meines Schreibtisches, auf dem mein iPad gerade ein Album von Nada Surf spielt: „The Stars Are Indifferent To Astronomy“.

Das Problem ist, dass die Kapitel, die ich heute schreiben will, im Sommer spielen, in einem dieser richtig heißen Sommer, die alles verlangsamen, die die Wahrnehmung intensivieren, die die Hitze und die Gerüche und den Staub in alle Poren und Gehirnzellen einbrennen, aber wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich graues Wasser und kleine Wolken von Blättern, die der Wind aus den vereinzelten Bäumen trägt, die mit jeder Böe struppiger aussehen, als Zeichen dafür, dass auch sie das Jahr aufgegeben haben. Der Mann im Overall hat die Leiche entsorgt, er lässt sich, nun sacklos, vom Wind zum Haus schieben. Immerhin ist die Wiese frischgrün und äußerst gepflegt, was mich vermuten lässt, dass hier nachts Kohorten von Gärtnern mit Flüsterlaubbläsern unterwegs sind, jedenfalls hört man nichts von ihnen. Aber ich brauche jetzt keine Gedanken an fallendes Laub und kleine Stürme und Windstärke-4-Gischt auf Binnenseen, und ich muss das Kaminfeuer, das in meiner Vorstellung lockt, unbedingt verdrängen. Ich brauche solche Gedanken, die sich mit flirrender Hitze und dem Gefühl dabei befassen. Allein, das ist weniger leicht, als man meinen sollte; man kann das nicht einfach heraufbeschwören. Geht es nur mir so? Ich habe kein Gedächtnis für Temperaturen, also dafür, wie sich Kälte oder Hitze, die ich erlebt habe, genau angefühlt haben. Ich finde Worte, die sich annähern oder möglicherweise passen, aber ich kann mir nicht in Erinnerung rufen, wie es exakt war, diese Temperaturen und ihre Wirkungen zu spüren, auf der Haut, am Haaransatz, in der Nähe der Schweißdrüsen. Wenn es allen so geht, dann ist egal, ob ich die Stimmung präzise treffe, aber mir sind beim Schreiben wenige Dinge egal, die mit dem Schreiben zu tun haben. Ich kann mich in alle möglichen Stimmungen versetzen, ich kann jederzeit mit meinen Figuren traurig, wütend, euphorisch, verliebt, melancholisch, verängstigt und begeistert sein, aber wenn ich jetzt mit meinem Thermobecher in den Händen vor dem Fenster stehe, ihn beidhändig umklammere, als enthielte er Grog, und dabei auf dieses Mistwetter schaue, ist der Sommer, von dem ich schreiben will, unerreichbar weit weg.

Der Song „Jules and Jim“ von Nada Surf beginnt, und es ist gut möglich, dass ich noch nie bewusst darauf geachtet habe, dass es diesen Song auf diesem Album gibt, aber jetzt hat er plötzlich meine volle Aufmerksamkeit. Es ist sehr, sehr lange her, dass ich den Truffaut-Film gesehen habe, von dem dieses Lied handelt; ich kann mich nur dunkel an diese Dreiecksgeschichte erinnern, in deren Zentrum Jeanne Moreau als Catherine stand, aber ich habe jetzt das Gefühl, dass es flirrende Bilder vom Sommer in der Provence gab, dass die Sonne erbarmungslos auf Lavendel und abgemähte Getreidefelder herunterbrannte, dass Schweiß auf gebräunter Haut perlte. Keine Ahnung, ob das stimmt oder nicht, darüber will ich überhaupt nicht nachdenken. Ich wende mich rasch vom Fenster ab, wähle am iPad „Song wiederholen“ – und dann höre ich dieses Stück in der Endlosschleife, bis die Szene fertig ist. Scheiß auf das Wetter! 

Am Abend ist das Hotel leer, fast still, als ich etwas zerzaust und durchnässt von der Pizzeria an der nächsten Ecke zurückkomme. Ich wandere mit meinem Laptop unter dem Arm in die Bar, wo die Barfrau gelangweilt Gläser poliert, irgendwas von Elton John läuft und sich ein älteres Paar, das offensichtlich nicht mehr auf Wochenenden angewiesen ist, mit Rotwein zuprostet. Die Barfrau zeigt auf den Zapfhahn, ich nicke – und lese anschließend die Szene. Beim Lesen wird mir warm, ich fühle mich sommerlich, und ich muss lächeln. Das Bier kommt, ich trinke einen Schluck, bin zufrieden. Ich kann mir jetzt etwas Erholung gönnen, also schließe ich die Kopfhörer an und streame den Film. Er ist ganz anders, als ich ihn in Erinnerung habe, aber vor allem ist er ganz unsommerlich. Keine Lavendelfelder, kein gleißendes Licht, es herrscht eher herbstliche Stimmung.

Erstaunlich.

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