Selbst Mücken konnten uns nicht abhalten

Von Lichterfelde-West nach Zehlendorf mit der S-Bahn, dort in den Bus nach Stahnsdorf, Haltestelle Bahnhofstraße. Ich stieg aus, verwundert darüber, dass die Haltestelle zwar so heißt, keineswegs aber an der Bahnhofsstraße liegt. Rechter Hand hatte ich eine chinesische Pagode, linker Hand ein Seniorenwohnheim. Während ich noch überlegte, aus welchem Gebäude Jörg wohl kommen würde, sah ich ihn von einer entfernten Bushaltestelle winken. Wir hatten vor, gemeinsam einen Besuch zu machen, nämlich bei Heinrich Zille. Der liegt seit dem 9. August 1929 auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf und hat dort seine Ruhe. Jedenfalls solange nicht Leute wie wir dort vorbeischauen und ihn kurzzeitig stören. Ich hoffe, er verzeiht es uns, wir haben uns auch bemüht, keinen großen Lärm zu machen.

Das fiel uns auch nicht schwer, denn der weitläufig angelegte Waldfriedhof, der zu den größten europäischen Friedhöfen gehört, strahlt eine Ruhe aus, die man gar nicht stören möchte. Wir wären noch ruhiger gewesen, wenn die Mücken uns in Frieden gelassen hätten. Die waren jedoch in einer Zahl vertreten, die einen Lebenden binnen kürzester Zeit um den kompletten Blutvorrat hätten bringen können. Glücklicherweise war Jörg vorbereitet und hatte Spray dabei, das die Mücken von uns fernhielt, von einzelnen einmal abgesehen.

Gräber fallen auf den ersten Blick nicht ins Auge. Hat man das Friedhofstor und die Verwaltungsgebäude links und rechts hinter sich gelassen, erwartet den Besucher ein breiter Weg, der durch einen Wald führt. Gräber sieht man zunächst nur vereinzelt zwischen den Bäumen, teilweise mit Grabsteinen, die aussehen, als würden sie demnächst umfallen. Dann treten links und rechts größere und teilweise imposante Grabmäler hervor. Zum Beispiel das von Georg Graf von Arco (1869-1940), einem Wegbereiter der Funktechnik. Man hat nicht weit zu gehen, um das Grab von Friedrich Wilhelm Murnau (1888-1931), dem Schöpfer von Nosferatu zu erreichen. Wir hielten uns hier aber nicht lange auf. Man weiß ja nie, wer da plötzlich aus dem Grab steigt.

 

Hinter der Friedhofskapelle, die entfernt an eine norwegische Stabkirche erinnert, bogen wir rechts ab. Gerne hätte ich mir in der Kapelle die Jugendstilglasfenster angesehen, aber sie war wegen Renovierungsarbeiten geschlossen.

Heinrich Zille liegt ein wenig abseits vom Weg. In einen mächtigen Stein wurde sein Profil von August Friedrich Johann Kraus (1868-1934) eingemeißelt. Kraus war ein Freund Zilles, der mit ihm zusammen die Berliner Secession verließ und die »Freie Secession« gründete. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde er Vorsitzender der »gesäuberten« Akademie der Künste und versäumte es auch nicht, eine Loyalitätserklärung gegenüber Adolf Hitler abzulegen. Ob das seinen Freund, der da schon unter der Erde lag, zu rotierenden Bewegungen veranlasst hat?

Ein wenig abseits vom Grabstein des Künstlers steht ein kleinerer Stein, der darauf hinweist, dass dort Hulda Zille, geb. Frieske liegt. Immerhin steht der Stein aufrecht. Ninon Hesse bekam neben dem Grabstein ihres Mannes Hermann Hesse nur eine flach liegende Grabplatte.

 

In einem großen Bogen wollten wir zum Eingang zurück. Es war ein Spaziergang durch eine verwunschene Welt. Kaum begegneten uns andere Menschen. Vorbei kamen wir auch an dem Grabmal von Gustav Langenscheidt (1832-1895) und seiner Familie. Der Sprachwissenschaftler und Begründer des gleichnamigen Wörterbuchverlages hat sich ein ausreichend großes Grabmal bauen lassen, damit seine Familie angemessen Platz hat. Vielleicht hat er ja auch noch einige seiner Wörterbücher mit ins Grab genommen.

Uns fiel auf, dass viele Inschriften auf den Grabsteinen ganz oder teilweise verschwunden waren, nämlich dann, wenn sie aus Kupfer oder Messing gestaltet waren. Manche Buchstaben hingen schief und verbogen herunter, wohl weil die Metalldiebe sie nicht abbekamen oder bei ihrem Tun gestört wurden. Grabräuberei war schon bei den alten Ägyptern populär und hat sich bis heute gehalten.

 

Direkt hinter dem Eingang liegt ein kleines Café, eine sinnvolle Einrichtung, denn so kann man sich vor dem Friedhofsbesuch und danach ausreichend stärken. Beides haben wir gemacht. Friedhofsbesuche können schön sein, vor allem solche, die außer Gräbern noch viel Wald zu bieten haben. Und solange man sie freiwillig wieder verlassen kann.

Ihr Horst-Dieter Radke

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