Sonntagsserie: Ideen und Recherche

Vom Autobiografischen im Fiktionalen

„Sage mir, Harald“, frage ich beim freitagabendlichen Billard den Polizisten in unserer Runde. „Mal angenommen, jemand ist nachts im Safaripark an einen Baum gefesselt, und dann kommen die Löwen und die Tiger und … du weißt schon. Wie sieht der wohl am nächsten Morgen aus?“

Harald starrt mich ausdruckslos an. „Scheiße“, sagt er. Nachdenklich fährt er mit der Kreide über die Spitze seines Queues. „Richtig scheiße sieht der aus.“

„Dann hast du das also schon mal erlebt?“

„Na, logisch“, sagt Harald und beugt sich übers Grün.

„Und müsst ihr als normale Streifenpolizisten dann zu den Angehörigen fahren und ihnen das erzählen? Oder macht das die Kripo?“

Haralds Blick umdüstert sich. Mit einem grimmigen Stoß versenkt er die Acht im Mittelloch. Er richtet sich auf. „Wir müssen jeden Kack machen.“

So viel zum Thema Recherche. Viel mehr fällt mir dazu nicht ein. Außer natürlich … Und ja, verdammt: Ich weiß. Dass. Googeln. Nicht. Recherchieren. Ist. Ich tu’s aber trotzdem. Als dritte und letzte Möglichkeit bleibt das Durchsuchen der Fantasie-Reservoirs in den geheimen Kammern meines Gehirns. Irgendwo muss da etwas sein von der Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man selbst die im nächtlichen Safaripark an den Baum gefesselte Person ist. Wenn man in die Dunkelheit lauscht, und auf einmal ist da ein Rascheln, und … Sie wissen schon.

Im Übrigen bin ich sorglos, sowohl was das Recherchieren als auch die Ideenfindung angeht. Das Schöne am Fiktionalen ist ja, dass, je nach Genre natürlich, der Deformation der Wirklichkeit kaum Grenzen gesetzt sind. Das geschieht sogar absichtslos und ganz ohne mein Zutun. Ein Beispiel: Tippen oder besser wischen Sie nur einmal eine gewöhnliche Einkaufsliste in Ihr Smartphone und verlassen sich blind auf die Autokorrekturfunktion. Das Ergebnis wird eine Quelle faszinierenden Rätselns sein – oft die Vorstufe zum Spinnen einer neuen Geschichte.

„Was mag Augenweide heißen?“, frage ich meinen Mann beim Wochenendeinkauf.

„Beim letzten Mal hieß es Augenzeugs“, sagt er.

Na bitte, da haben wir es. Wenn schon Augenzeugs ein ungleich griffigeres Wort als Augen-Make-up-Entferner ist, um wie viel poetischer ist dann Augenweide?

Stadttore haben wir auch, kannst du löschen“, sagt mein Mann und wuchtet einen Kasten Staropramen in den Einkaufswagen.

„Und Totenbett?“, frage ich.

„Totenbett, Totenbett“, murmelt mein Mann auf dem Weg zur Kasse vor sich hin. Und wenn er, nachdem wir unsere Augenweiden, Stadttore und den restlichen Unfug aufs Band gelegt haben, plötzlich ausruft: „Totenbett ist Tomatensaft!“, dann ist es mir die im Nu aufgelockerte Stimmung um uns herum tausendmal wert, dass wir das Wochenende ganz ohne Tomatensaft verbringen werden. Außer, wir wollen alles wieder in den Wagen laden und gefühlte zwei Kilometer durch den weitläufigen Markt bis zur Getränkeabteilung usw. usw., mich ermüdet’s schon beim Schreiben.

Jetzt bin ich abgeschweift. Um aufs Thema zurückzukommen: Es gibt keinen Harald. Die freitagabendliche Billardrunde ja, aber Harald, den Polizisten, habe ich mir ausgedacht. Vielleicht sind deswegen seine Auskünfte beklagenswert allgemeiner Art. Schade, sonst könnte ich ihn jetzt fragen, wie sich jemand anhört, der an einer Blechpresse arbeitet und dessen Hand plötzlich zwischen die …

„Geh mir bloß weg“, höre ich Harald sagen. Egal. Bemühe ich eben wieder die hirneigenen Vorratskammern. Irgendwas findet sich da meistens. Und wenn nicht, dann wird es eben eine andere Geschichte. Eine mit autobiografischem Kern: von Tomatensaft, der sich über ein Totenbett ergießt. Eine Augenweide. Irgendwie so was.

Ihre Kristin Lange

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