Ein Beitrag von Tom Liehr
Das Leben ändert sich andauernd, es ist in Bewegung – dynamisch, fließend, amorph. Deshalb lässt sich auch im Nachhinein schwer sagen, welche Ursache welche Wirkung hatte, was sich also genau durch was genau geändert hat. Umso schwerer ist das, weil man kein Parallelleben hat, in dem das fragliche Ereignis fehlt – und das man zum Vergleich heranziehen könnte. Vermutlich sagt man sich gelegentlich: Ja, dieses oder jenes Ereignis hat mein Leben total verändert – dabei wäre es ohne dieses Ereignis nahezu exakt genauso weitergelaufen (im Parallelleben ist man der gleiche, stinkendfaule, struppige Doofhorst). Oder, umgekehrt: Eine Marginalie hatte enorme Folgen, aber man hat’s nicht gemerkt (die verirrte Gewehrkugel, die einen verfehlt hat, weil man sich nach der wieder einmal missglückten Schnürsenkelschleife bücken musste).
Doch es gibt natürlich auch Ereignisse, die fraglos singulare Veränderungen zur Folge haben – die am Anfang einer personalhistorischen Entwicklung stehen, die es ohne sie nicht geben würde. Begegnungen, die neue Perspektiven eröffnen, lebensbedrohliche Katastrophen, die einem sprichwörtlich die eigene Sterblichkeit vor Augen führen, und Augenöffner und Vorurteilskiller jeder Art.
Ich war in den Zwanzigern, machte Radio und wollte eigentlich Schriftsteller sein. Jemand, mit dem ich in dieser Lebensperiode viel Zeit verbrachte, wusste von meinen Ambitionen, und diese Person hatte auch ein paar Kurzgeschichten von mir gelesen. „Belangloses Zeug“, lautete das Urteil. „Mutlos. Gebremst. Konventionell. Du hast ein gutes Gefühl für Sprache, aber du schreibst immer noch verdammte Schulaufsätze. Du traust dich nichts.“
Und dann gab mir diese Person ein Buch – Die Anatomiestunde von Philip Roth. „So musst du schreiben, oder du musst es zumindest versuchen. Da ist keine Schere im Kopf, da bremst keine Angst vor Reaktionen, da tragen Gedanke und Idee etwas, das wirkliche, wahre Literatur ist. Klar, du wirst nie so schreiben können, aber du solltest es wenigstens versuchen.“
Ich nahm das Buch mit und las es. Ich habe nicht alles verstanden, aber es war der Beginn einer großen Bewunderung – und es hat mein Leben verändert.
Weil ich durch dieses Buch verstanden habe, worum es beim Schriftstellersein geht.
Die Anatomiestunde ist ein mittelspäter Roman von Philip Roth, 1983 und damit am Ende des ersten Drittels seiner Schaffenszeit entstanden, und er stellt den Abschluss der ersten Zuckerman-Trilogie dar. Die Kunstfigur Nathan Zuckerman erlebte noch eine weitere Trilogie und ein paar Einzelromane, und sie gilt – verabschiedet im Jahr 2007 in Exit Ghost – als Alter Ego des Schriftstellers, als eine Mischung aus Vor- und Wiedergänger, ausgestattet mit einem ganz ähnlichen Schicksal wie Roth selbst: Es gab einen frühen, skandalumwobenen Erfolg mit dem Roman Camovsky (bei Roth Portnoys Beschwerden), der für die einen als obszön und antisemitisch galt – Roth und Zuckerman verband u. a. die jüdische Herkunft –, für die anderen als Geniestreich, als Befreiungsschlag gegen die angestaubte, langweilige Betroffenheitsliteratur. Zuckerman wurde anschließend von Selbstzweifeln gequält, geriet in eine Schaffenskrise, lenkte sich mit Drogen und Affären ab und wurde schließlich krank – chronisch schmerzkrank. Die Frauen, die er zugleich und mit erheblichem logistischen Aufwand unabhängig voneinander beglückte, nahmen auch abseits hiervon wichtige Positionen in Zuckermans Leben ein, dienten ihm beispielsweise als persönliche Assistentin und als Buchhalterin. Aber eine Erlösung war nicht in Sicht, selbst als sich die Erkenntnis über den Ursprung der Schaffenskraft in Person einer der Frauen sozusagen materialisierte. Zuckerman beschloss, Medizin zu studieren, um sich selbst heilen zu können.
Die Anatomiestunde ist beileibe nicht Roths bester oder erfolgreichster Roman. Er hat bessere und schlechtere geschrieben, Rohrkrepierer und Weltbestseller. Ich habe alle gelesen, auch die etwas unangenehme, sehr persönliche „Mein Leben als …“-Reihe, oder die fast schon belanglose Autobiografie Die Tatsachen, aber auch Geniestreiche wie Portnoys Beschwerden, das die Karriere fundamentierte, und The Great American Novel, das neben Die Anatomiestunde zu meinen Lieblingsromanen von Philip Roth zählt, diesen Platz aber aus anderen Gründen hält.
Doch diese Wirkung, die hatte nur dieses Buch. Diese Schonungslosigkeit, diese Rücksichtslosigkeit vor allem sich selbst gegenüber, als hätte der Autor nichts zu verlieren. Diese fein kanalisierte Wut, diese Verve, diese überaus sanfte Härte. Dazu diese Sprachmelodie, diese Art des Erzählens. Es ist lange her, aber ich erinnere mich noch genau, wie ich beim Lesen gespürt habe, was mich von diesem beeindruckenden Mann, diesem großartigen Autor und genialen Erzähler unterschied, und zwar an einer Stelle, die zu ändern im Bereich meiner Möglichkeiten lag. Uns trennen immer noch mindestens Welten, eher jedoch Galaxien, wenn es um Relevanz, Schlagkraft und Qualität des Œuvres geht, aber ich habe damals erkannt, in welche Richtung ich gehen muss, um besser zu werden, um ein verdammter Schriftsteller zu sein. Ich habe verstanden, dass ich alles darf, dass ich ungebremst schreiben muss, dass ich nicht in Sorge sein darf, etwa um die Wirkung der Texte, um Ressentiments oder Peinlichkeiten. Dass gut zu schreiben bedeutet, die Freiheit zu nutzen, sich ihr, so widersprüchlich das klingt, zu unterwerfen. Nur dann hat man die Chance, wenigstens ein bisschen besser als der zu sein, der man vorher war. Der auch ich vorher war. Bevor dieses Genie mit diesem Buch in mein Leben trat.
Philip Roth ist im Mai 2018 gestorben, hatte sich aber schon sechs Jahre vorher vom Schreiben zurückgezogen. Ich vermisse ihn als Autor sehr.
Ihr Tom Liehr