Von Ingenieuren und gefährlichen Naturalisten

Ein literarischer Friedhofsspaziergang

Ich bin nun schon seit einigen Jahren regelmäßig in Berlin Lichterfelde-West. Wenn Kind und Enkelkind dort wohnen, ist das auch leicht zu erklären. Oft und oft stromere ich in freien Minuten durch die alten Villenviertel, in denen die Lilienthals gewohnt und auch viele der prächtigen Häuser entworfen haben. Baumbestandene kopfsteingepflasterte Straßen geben dem Viertel einen Duktus, der an eine Zeitreise erinnern könnte, stände nicht die modernen Autos links und rechts am Rand. Dass ich bisher niemals den Weg zu den Lichterfeldern Friedhöfen – es gibt deren zwei – gefunden habe, wundert mich selbst und so nutzte ich letzte Woche die Gelegenheit und suchte einen auf. Vom S-Bahnhof Lichterfelde West auf die Drakestraße, ein paar hundert Meter bis zur Augustastraße, über den Augustaplatz schräg links in die Manteuffelstraße, stößt man auf die Moltkestraße, an der der Friedhof liegt. 1876, als der Friedhof gebaut wurde , gehörte Lichterfelde noch nicht zu Berlin. Heute ist es übergangslos eingegliedert in die Metropole. Das große Tor, etwas unpassend in die Mauer gequetscht, lässt die Besucher von der Westseite hinein. Und gleich an der Westmauer liegt auch das erste Grab, das ich aufsuchen wollte.

Ein etwas älterer Herr – korrekter Anzug, Kaiser-Wilhelm-Schnauzer und Vollbart darunter, deutlich gelichtetes Haar – steht dort und macht Bewegungen, als ob er rauche. Zu sehen sind aber weder Zigarette noch Zigarre. Ich will nicht stören und bleibe ein wenig entfernt stehen. Die Inschrift des Grabsteins kann ich gerade noch erkennen. Der Herr wendet sich mir zu, streckt die Hand ein wenig aus und fragt: „Sie haben nicht zufällig etwas zu rauchen?“

„Nein“, sage ich überrascht, „ich bin Nichtraucher.“

„Die Welt hat sich verändert“, seufzt er. „Die Leute paffen, wenn sie überhaupt noch rauchen, Flüssigkeiten und keinen Tabak mehr.“

„Ist ja auch ungesund“, wage ich einzuwenden. Eine abwehrende Handbewegung ist die stille Antwort.

„Herr Seidel?“, frage ich vorsichtig, um ganz sicherzugehen.

„Was ist denn?“, kommt es ein wenig unwirsch zurück, aber er wendet sich mir wieder zu. „Sie haben mich erkannt? Ich dachte, ich bin längst vergessen.“

„Ach, woher denn“, sage ich und beginne: „Dem Ingenieur ist nichts zu schwere, er lacht und spricht: / Wenn dieses nicht, so geht doch das! / Er überbrückt die Flüsse und die Meere / die Berge unverfroren zu durchbohren ist ihm Spaß.“

Nun lächelt er. „Ja, das war mein erster Beruf, und er hat mir durchaus Spaß gemacht. Aber was ist davon geblieben?“

„Die Yorkbrücken“, wende ich ein.

„Nun ja, aber nicht mehr so, wie ich sie zusammen mit dem Schwechten entworfen habe. Und die Dachkonstruktion des Anhalter Bahnhofs hat man kaputt gebombt, abgerissen, weggemacht.“ Seine Augen glänzen feucht. „Nichts, was man schafft, hat Bestand.“

„Und ihre Bücher werden immer noch gelesen“, versuche ich zu trösten, „vielleicht nicht mehr in Massen, aber man kennt sie noch: Leberecht Hühnchen, Reinhard Flemmings Abenteuer zu Wasser und zu Lande, ihre Märchen. Und wenn es gilt, Gedichte zusammenzustellen, ist nicht selten eines von ihnen dabei.

Das Lächeln kehrt langsam zurück. »Man sollte es nicht glauben, aber …« setzt er hinzu, „man trifft ja dort, wo ich jetzt bin, diese und jenen, und diese Frau Dr. Erika Fuchs ist mir sehr sympathisch. Sie hat mein Gedicht zwar ein wenig verunstaltet mit diesen „ös“ – Dem Ingeniör ist nichts zu schwör –, aber ich verstehe das. Und dieser Herr Düsentrieb, dem sie es in den Mund gelegt hat, gefällt mir auch ganz gut, zumindest nach dem, was sie mir von ihm erzählt hat.“ Er führt die Hand wieder zum Mund, als wolle er seine Zigarre weiterrauchen.

»Das ist doch alles wahr?«, fragt er mit besorgtem Blick.

„Doch, doch“, bestätige ich. „Durch diesen Daniel Düsentrieb werden die Kinder heute an den Ingenieurberuf herangeführt. Ein wenig unkonventionell, aber immerhin.“

„Danke für das nette Gespräch, aber ich muss wieder … Ich kann Agnes nicht so lange alleine lassen.“

„Nett, sie kennengelernt zu haben, Herr Seidel. Grüßen Sie Ihre Frau.“ Aber da verblasst seine Gestalt schon. Ich trete näher an das Grab heran und mache ein Foto vom Grabstein des Heinrich Seidel (1842–1906) und seiner Frau Agnes (1856–1917).

Ich muss etwas weiter in den Friedhof hineingehen, um das nächste Grab zu finden. Wolfgang Kirchbach liegt dort begraben, 1857 in London als Sohn eines Historienmalers geboren, 1906 in Bad Nauheim gestorben. Er genoss eine vielfältige Bildung, wurde Redakteur und Theaterkritiker und kam 1896 nach Berlin. 1880 erschien sein erster Roman (Salvator Rosa), doch schon mit seinem nächsten Werk – Kinder des Reiches und ihre Rezensenten – wurde er auffällig. Im Reichstag stufte man das Werk als „gemeingefährlich“ ein und vermutete in ihm sogar einen „Naturalisten“. Er gehörte zum Friedrichshagener Dichterkreis, was diese Vermutung durchaus stützte. Doch er war auch Mitbegründer des Giordano-Bruno-Bundes und setzte sich für die Wandervogel- und Volksbildungsbewegung ein. Gerne hätte ich auch mit ihm ein Gespräch geführt, doch er ließ sich nicht blicken, so wenig wie seine zweite Frau Marie Luise. Mag sein, dass sie ihn zurückgehalten hat, denn ich hätte ein paar deutliche Anmerkungen nicht zurückhalten können, nämlich über ihre Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus. Einen Roman wie Frau hinter der Front hätte sie nicht unbedingt schreiben müssen, ihre Bücher waren gefragt und wurden auch im europäischen Ausland in Übersetzungen gelesen. Sie war in zweiter Ehe seit 1917 mit dem Schuldirektor Paul Gerhard Strube verheiratet, trennte sich aber 1934 endgültig von ihm. Nach 1941 schrieb sie nicht mehr und starb 1960 in einem Altenheim in Schlachtensee. Beigesetzt hat man sie im Grab ihres ersten Mannes, allerdings mit ihrem letzten Name Strube.

Mehr war hier nicht zu finden für mich. Nächstes Mal werde ich den Parkfriedhof Lichterfelde aufsuchen, dafür aber deutlich mehr Zeit einplanen. Und vielleicht besuche ich auch noch Otto Lilienthal in Lichterfelde-Ost.

Bis dahin wünsche ich Ihnen anregende Lektüre und, das muss man in diesen Zeiten mehr als sonst sagen, gute Gesundheit.

Ihr
Horst-Dieter Radke

Teilen: