Warum ich einmal nicht aufräumte

Vergangene Woche habe ich eine geschätzte Deutschkollegin vertreten. Ich habe von Deutschunterricht keine Ahnung und stellte daher mit Entzücken fest, dass die lieben Kleinen bereits an einer Aufgabe saßen: der Berichtigung der letzten Klassenarbeit. Damit ergab sich ein eher ungewöhnliches Problem: Ich hatte nichts zu tun. Zum Glück gab es hinten im Raum ein Bücherregal, das ich nach Lesestoff durchsuchen konnte. Während ich den üblichen Kram gelangweilt beiseiteschob, fiel mein Blick auf den Titel Momo, was mich sofort an das dazugehörige Theaterstück denken ließ, das wir einmal in der Grundschule besucht hatten. Schritt-Atemzug-Besenstrich raunte mir der zerknickte Einband des Taschenbuchs zu. Ich war gespannt auf die literarische Vorlage der fiesen grauen Männer.

Michael Endes Roman erzählt die Geschichte eines kleinen Mädchens, das die Kunst des Zuhörens beherrscht. Diese Gabe zieht Kinder und Erwachsene in seinen Bann, sodass es bald der Mittelpunkt eines großen Freundeskreises ist. Doch die glückliche Zeit dauert nicht lange: Zigarre rauchende Männer infiltrieren die Stadt, um den Menschen ihre Zeit zu stehlen. Sie brauchen sie zum Überleben, sie lügen und betrügen und setzen die Menschen unter Druck, bis sie ihre Zeit ansparen.

Leider kam ich nicht sehr weit mit der Lektüre, aber ich brauchte mehr. Die wunderschöne Sprache Michael Endes hatte mich in Momos Welt hineingezogen, wo ich mich auf dem unteren Rang eines Amphitheaters wiederfand, den Spielen der Kinder zuschauend und Momos Geschichten lauschend. Und dann stutzte ich.

Denn die Dystopie aus Momo beschreibt ziemlich genau das, was ich jeden Tag vor mir sehe, wenn ich am morgendlichen Berufsverkehr teilnehme; wenn ich einen ganz normalen Arbeitstag an der Schule ableiste; wenn ich durch die Straßen gehe, an all den gehetzten Menschen vorbei, die kein Auge für ihre Umgebung zu haben scheinen. Michael Ende zeigt, wohin die Illusion der messbaren Zeit unsere Gesellschaft führt; zeigt, dass es sich lohnt aufmerksam zu sein, die Gegenwart auszukosten und sich nicht auf Autopilot vom Strom des Alltags mitreißen zu lassen.

Als es zum Stundenende klingelte, stand bereits fest, dass ich mir die gleiche Ausgabe (mit Zeichnungen von Michael Ende) besorgen würde. Ich musste weiterlesen. Das angelesene Buch ließ ich aufgeschlagen auf dem Tisch liegen, in der Hoffnung, einen der Schüler neugierig zu machen, das Raunen der Buchstaben vernehmen zu lassen … und zu lesen, anstatt einfach aufzuräumen.

Ihr Christoph Junghölter

 

 

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