„Waren Sie schon mal hier?“
Ich hatte mit der Frage nicht gerechnet und schüttelte vor Überraschung nur den Kopf.
„Sie sind kein Berliner? Wo kommen Sie denn her?“
„Aus dem Taubertal.“ Als ich das ratlose Gesicht sah, ergänzte ich: „Etwa 40 km südlich von Würzburg.“
„Ja, aus den alten Bundesländern kommen neuerdings viele auf den alten Garnisonsfriedhof“, kommentierte er. “Wenn Sie Fragen haben, kommen Sie ruhig zu mir. Ich beantworte sie Ihnen gerne.“
„Werde ich machen“, sagte ich und ging davon aus, dass das Gespräch nun zu Ende sei. Aber weit gefehlt. Er fuhr einfach mit seinem Vortrag fort.
„Es ist ja nicht mehr so, wie es einmal war. Der heutige Garnisonsfriedhof ist nur ein kleiner Teil der alten Anlage. Kennen Sie Menzel?“
„Den Maler?“
„Genau den. Kommen sie mal mit.“
Das Schild „Ausstellung“ hatte mich in das kleine Häuschen hinter dem Eingang zum Alten Garnisonsfriedhof geführt. Ziemlich unübersichtlich waren zahlreiche Schautafeln mit erschlagend viel Text vorhanden, und ich hatte gezögert, ob ich mich länger aufhalten sollte, wobei mich der Mann erwischt hatte. Nun führte er mich zu einigen Tafeln in der hinteren Ecke.
„Im 18. Jahrhundert hat man sogar Grüfte entdeckt, in denen Mumien lagen. Nicht solche einbalsamierten wie in Ägypten, sondern natürlich mumifizierte Leichen. Da ist der Menzel runtergestiegen und hat die alle abgezeichnet. Sehen sie hier!“
Allzu klein gab es einige Reproduktionen zu sehen.
„Ist heute leider alles nicht mehr vorhanden. Aber einige Besonderheiten gibt es noch. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen. Alleine werden Sie es nicht entdecken.“
Er führte mich über die Anlage, nach links und rechts zeigend.
„Es ist eben ein Soldatenfriedhof, wobei nur noch der Teil für die Offiziere erhalten ist. Den Teil für die einfachen Soldaten hat man schon vor längerer Zeit platt gemacht. Da stehen heute Häuser. Dort drüben …“ – er zeigte nach rechts – „sind die letzten Bestattungen gemacht worden. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.“
Wir näherten uns dem Ende des Friedhofs, und fast hatte ich den Eindruck, er wolle mich hinauskomplimentieren.
„Rechts am Ende, das Lapidarium, da ist das, was ich Ihnen zeigen will.“
Wir betraten einen Raum, in dem Reste von Grabsteinen gelagert waren. Und Bruchstücke von Mauern oder Gebäuden, ich konnte es nicht genau erkennen. Er trat zu einem großen Grabstein, legte die Hand darauf und lächelte mich an.
„Begraben wurden auf dem Garnisonsfriedhof nur Militärs und manchmal Mitglieder ihrer Familien. Mit einer Ausnahme: Der Steinmetz Georg Friedrich Fromm wurde bei Bauarbeiten an der Garnisonskirche durch einen Stein erschlagen. Ihm stifteten die Kollegen diesen Grabstein, den sie allerdings zweckentfremdet hatten, denn er war ursprünglich für die Stadtmauer vorgesehen.“
Nun wusste ich auch das. Den Rest der Friedhofsbesichtigung überließ der gesprächige und freundliche Friedhofsführer mir allein. Später sah ich, wie er auch anderen Besuchern Erklärungen über bestimmte Gräber gab. Mein Tipp: Wenn er Sie bei der Friedhofsbesichtigung nicht ohnehin anspricht – einfach nachfragen. Er erklärt gern und gut, und wenn es etwas ist, was man nicht wissen wollte, schadet das auch nicht.
Manches Grab auf dem Alten Garnisonsfriedhof im Berliner Stadtteil Mitte (an der Kleinen Rosenthaler Straße, Ecke Linienstraße) steht in einem Zusammenhang mit den Befreiungskriegen 1813–1815, in denen sich Mitteleuropa gegen die französische Vorherrschaft unter Napoleon Bonaparte wehrte.
So auch das Grab von Ludwig Adolf Wilhelm von Lützow (1782– 1834), der durch das nach ihm benannte Freikorps „die schwarzen Jäger“ bekannt wurde. Selbst kein Schriftsteller, hinterließ er doch literarische Spuren durch das Gedicht „Lützows wilde Jagd“ von Theodor Körner:
Was glänzt dort vom Walde im Sonnenschein,
Hör’s näher und näher brausen;
Es zieht sich herunter in düsteren Reih’n
Und gellende Hörner, sie schmettern drein,
Und erfüllen die Seele mit Grausen.
Und wenn ihr die schwarzen Gesellen fragt:
Es ist Lützows wilde verwegene Jagd.
…
Auch der, dessentwegen ich überhaupt auf diesen alten Garnisonsfriedhof kam – Friedrich Heinrich Karl Baron de la Motte Fouqué – tat sich in den Befreiungskriegen hervor.
Aber er war auch Dichter, und zwar einer der deutschen Romantik. Als Freund und Kollege von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann ist er hauptsächlich in Erinnerung geblieben und seiner märchenhaften Erzählung „Undine“ wegen, aus der Hoffmann sogar eine Oper gemacht hat. Die wird heute kaum noch gespielt, obwohl Hoffmanns Musik dies durchaus lohnenswert machen würde. Bekannter ist die fast drei Jahrzehnte später entstandene Fassung von Albert Lortzing. Im 20. Jahrhundert hat sich Sergei Prokofjew noch einmal an den Stoff gewagt.
Fouqué hat mehr geschrieben als dieses Märchen um eine Wasserfrau. Sein Werk ist aber weit weniger bekannt und wäre vielleicht vergessen, wenn nicht Arno Schmidt darauf aufmerksam gemacht hätte. Eine Besonderheit in Fouqués Werken ist eine Frauengestalt – schön, klug, selbstbewusst –, an der der Held jedes Mal scheitert. Der Grund ist wohl in der Biografie des Dichters zu suchen: Seine erste Frau verließ er wegen einer anderen. Bei der Scheidung sprach er seiner ersten Frau großzügig sein Gut zu und zog verarmt zu seiner Neuen. Die hinterließ ihm bei ihrem Tod weniger als ein Almosen – 40 Taler monatliches Taschengeld, solange er nicht wieder heiraten würde. Dies tat er allerdings schon zwei Jahre später und verlor damit auch diese karge Rente. Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass diese zweite Frau – Karoline Philippine, geborene von Briest, verehelichte von Rochow – ihm achtundzwanzig Jahre ein relativ sorgenfreies Dichterleben ermöglicht hat und ihr eigenes schriftstellerisches Schaffen in seinen Schatten stellte. Zeitgenossen – so E.T.A. Hoffmann, Wilhelm von Humbold, Karl August Varnhagen – lobten sie jedoch sehr.
Aber es sind noch weitere Schriftsteller auf diesem Garnisonsfriedhof zu finden. Johann Heinrich Karl Menu, Freiherr von Minutoli (1772–1846) beispielsweise.
Der aus Genf stammende Menu trat bereits als 14-Jähriger in das preußische Heer ein, machte als Leutnant den Rheinfeldzug 1792/93 mit, wurde dabei so schwer verwundet, dass er seinen rechten Arm nicht mehr gebrauchen konnte. Als Stabsoffizier nach Berlin versetzt lernte er führende Wissenschaftler der Residenz kennen. Er hatte sich durch archäologische Unternehmungen im Rheinland einen Namen gemacht und auch als Militärschriftsteller einen guten Ruf erworben. Er wurde zum Major befördert, Gouverneur des Prinzen Karl und 1820 Ehrenmitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Nach Beendigung seines Erziehungsauftrags beim Prinzen machte er eine Studienreise in den Orient und erwarb dort wertvolle Altertümer. Papyrusrollen, Mumien und andere Funde bilden den Grundstock der ägyptischen Sammlungen von Berlin. Ein nicht unwesentlicher Teil ging allerdings verloren. Der in Triest gecharterte Segler „Gottfried“ ging in der Nacht zum 12. März 1822 in der Elbmündung in einem Orkan unter. Er wurde bis heute nicht gefunden. Einige Stücke aus der Sammlung, vermutlich an Land gespült, tauchten später auf und konnten zurückgekauft werden.
Weiterhin ist das sphinxgeschmückte Grabmal von Gustav Adolf von Ziegler (1808– 1882) zu bewundern. Der Oberst und Kommandant war auch als Schriftsteller aktiv und Mitglied einer Freimaurerloge, deren Mitglieder ihm dieses Grabmal spendierte.
Eine große Grabplatte ziert das Grab von Carl Anton Andreas von Boguslawski (1758– 1817), der als Militärtheoretiker und Schriftsteller in seiner Zeit kein Unbekannter war. Sein Enkel Albert von Boguslawski (1834– 1905) liegt ebenfalls auf dem Garnisonsfriedhof. Unter seinem echten Namen schrieb er Militärtheoretisches und unter dem Pseudonym Friedrich Wernau schnöde Belletristik.
Emil Wilhelm Frommel (1828– 1896) war Theologe und Schriftsteller. Er nahm am Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 als „Soldat im Schwarzen Rock“ teil, wurde von Kaiser Wilhelm I. sehr gefördert, schrieb Grundsatzreferate für die Reichs-Lehrerkonferenz, Predigten und Traktate. Bekannt war er allerdings für seine Novellen und Erzählungen, für die er in den Ruf eines „Volksschriftstellers“ kam.
Noch ein weiteres „literarisches Grab“ beherbergt der Garnisonsfriedhof: das von Adolphine Susanne Luise Karoline Johanne von dem Knesenbeck. Sie war die Tochter eines preußischen Admirals, hatte in ihrer Jugend eine enge, freundschaftliche Beziehung mit Heinrich von Kleist und heiratete 1815 in zweiter Ehe den preußischen Oberst Karl Friedrich von dem Knesebeck. Sie schrieb Reisebeschreibungen, Tagebücher und viele Briefe. Leider sind die meisten dieser Werke verloren gegangen.
Beim Umherbummeln bemerkte ich, dass der Friedhof auch für Zwecke der Lebenden noch gut in Gebrauch ist. An der hinteren Mauer hatte sich eine junge Frau an eine schöne sonnige Stelle gelegt, um sich oberkörperfrei bräunen zu lassen. Wenn ich sehe, dass an Orten, an denen die Verstorbenen zur letzten Ruhe gebettet sind, auch das Leben noch präsent ist, freut mich das immer sehr.
Ihr Horst-Dieter Radke
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