Maria Maier über „42 Tage Putlitz“
Als Kind mochte ich Hühner nicht. Es störte mich, wie ruckartig sie sich bewegten, wie sie mit ihren bleichen Beinen die Erde aufscharrten und dabei immer nach allem pickten, was ihnen vor den Schnabel kam – als wären sie kleine, ferngesteuerte Erntemaschinen. Vor allem der Anblick ihrer roten, gummiartigen Kopf-Läppchen, die bei jeder Regung wackelten wie scheiblierte Grütze, hielt mich davon ab, eine freundschaftliche Beziehung zu ihnen aufzubauen. Eine Bindung, die ich sonst, wie das als Dorfkind so üblich war, zu fast allen Tieren zu haben glaubte, außer vielleicht zu Blindschleichen und Wölfen.
Erst seit ich diesen Sommer in Mansfeld bei Putlitz verbracht habe, wo ich dank des Stipendiums der 42er Autoren sechs Wochen lang ungestört an meinem Roman arbeiten konnte, weiß ich Hühner wirklich zu schätzen. Meine Nachbarn hielten auf der Wiese neben der Stipendiatenwohnung verschiedene Arten von Huhn. Kugelige, weiße Hennen, bedächtig umherwandelnde Gockel mit Philosophengesichtern oder auch eine Sorte gedrungener, bunt gescheckter Hühner, deren ausladendes Federkleid mich an die Reifröcke von Adelsdamen aus dem 16. Jahrhundert erinnerte. Am liebsten mochte ich aber die Urzwerge – winzige Hühner, die verdammt schnell rennen konnten. Die Küken der Urzwerge hatten die Angewohnheit, morgens zwischen acht und neun durch den nachbarlichen Gemüsegarten zu spazieren und sich in selbstbewusster Hausherrenart an den Salatköpfen zu bedienen. Allerdings nur, bis sie mich am Fenster auftauchen sahen, dann hauten sie immer sofort ab. Entweder sie fühlten sich in diesem Moment ertappt, weil sie den Menschen ihr Essen wegfraßen, oder mein grinsendes Gesicht hinter der Scheibe jagte ihnen Angst ein, jedenfalls ließen sie den Salat, sobald sie mich entdeckten, links liegen und flitzten raketenhaft durch den Garten, ab durch das Loch im Zaun und zurück auf die Hühnerwiese.
Ich war so berauscht von der Geschwindigkeit dieser saurierartigen Winzlinge, dass ich es einfach nicht lassen konnte, mich jeden Morgen wieder ans Fenster zu stellen, nur um zu sehen, wie sie durch den Garten schossen. So wurde der Anblick abhauender Küken in Mansfeld zum täglichen Eröffnungsakt meiner Schreibarbeit. Ein Grund für dieses Ritual war wahrscheinlich auch, dass es in der Wohnung kein Internet gab, denn sonst hätte ich nach dem Aufstehen vermutlich meine E-Mails gelesen, anstatt in den Garten der Nachbarn zu glotzen, aber die Sache mit den Hühnern war um einiges produktiver.
Sowieso merkte ich schon vom ersten Tag an, dass ich mich in meinem Schreibdomizil, umgeben von nicht viel mehr als Wiese, Wald und Himmel, auf geradezu unheimliche Weise konzentrieren konnte. Plötzlich begann sich aus meinem seit anderthalb Jahren angehäuften Materialwust, verteilt auf handschriftliche Notizen, bedruckte Papierseiten und etliche Word-Dateien, die Geschichte herauszuformen, die ich erzählen wollte: Ein Mensch wird von seiner Arbeit verschluckt, begegnet der Kunst und würgt sich selbst wieder aus.
In der ersten Zeit schrieb ich fast ununterbrochen von morgens bis abends. Aber auch wenn ich nicht am Computer saß und tippte – etwas in mir war in Gang geraten und sorgte dafür, dass ich mich unaufhörlich mit meinem Romanstoff beschäftigte. Für den Schreibprozess war das hervorragend, für mein inneres Gleichgewicht eher schlecht. Die Romanfiguren klebten an mir wie ein Pulk Wespen am Zwetschgenkuchen, und wo ich auch hinging, sie folgten mir. Wollte ich zum Beispiel beim Schreiben eine Pause einlegen und an den nahegelegenen Weiher spazieren, begleiteten sie mich ebenso hartnäckig wie wenn ich nach Putlitz zum Einkaufen radelte oder mich einfach nur mal kurz neben die Hühnerwiese hockte, um Herkules krähen zu hören. (Herkules ist der Anführer der Urzwerge. Sein Hahnenschrei lässt sich nicht besser beschreiben als mit dem Wort „urzwergisch“.)
Entsprechend dieser absoluten Versenkung in mein nicht gerade heiteres Manuskript geriet ich nach ungefähr zwei Wochen in einen ziemlich fragwürdigen Geisteszustand. Nachts rollte ich im Bett herum und konnte nicht schlafen, stand dann aber morgens trotzdem immer um dieselbe Zeit auf, um keinesfalls das Salatfrühstück der Küken zu verpassen.
Genau in dieser Phase bekam ich Besuch von der Märkischen Allgemeinen Zeitung. Natürlich wollte ich mir dem Reporter gegenüber nichts anmerken lassen, aber auf dem Bild des Zeitungsartikels sind meine Augen so verschwollen, dass sie aussehen wie die reinsten Zensurbalken. Nachdem der Artikel erschienen war, rief ich meine Schwester an und sagte: „Schau dir das Bild an, ich sehe 10 Jahre älter aus.“ Woraufhin sie kurz überlegte und dann erwiderte: „Nee. Eher 25 Jahre älter.“
Der Besuch des Musikerhoffestes Ende Juni, organisiert vom Pfarrerehepaar Spitzner, hellte meine Stimmung wieder auf. Alle Musikgruppen der Stadt stellten sich in der Putlitzer Pfarrscheune mit ein paar ausgewählten Stücken vor und ich bereute es kurz, vor allem angesichts der Vielfalt an kuriosen Blasinstrumenten, wie Fanfaren, Piccoloflöten und französischen Jagdhörnern, mein ursprüngliches Vorhaben, eine experimentelle Lesung mit Musik zu organisieren, wegen zeitlicher Knappheit verworfen zu haben. Jedenfalls fühlte ich mich nach diesem Abend wieder jung, wahrscheinlich auch deshalb, weil ich den Beach Boys-Coversong der Kirchenband so laut mitgesungen hatte.
Die wohltuende Weite der Prignitz und meine kontemplativen Hühnerstudien taten ihr Übriges.
Nach der dritten Woche hatte ich mich so an das gleichmäßige Arbeiten in der Ruhe und frischen Luft gewöhnt, dass ich mir nur noch schwer vorstellen konnte, wie ich künftig in Berlin klarkommen sollte. Würde ich die permanent am Haus vorbeiballernden Alarmsirenen und die von Elektrobässen unterlegten Klospül- und Fußballgeräusche aus dem Hinterhof überhaupt noch verarbeiten können? Ich musste sowieso dringend ein paar Dinge in Berlin erledigen, also fuhr ich für ein Wochenende nach Hause. Ein Spaziergang durch die blinkende, vollgemüllte Sonnenallee zeigte mir, dass ich weniger entfremdet war als ich gedacht hatte.
Zurück in Mansfeld vertiefte ich mich sofort wieder in mein Manuskript. Ich wollte es unbedingt schaffen, während des Stipendiums eine erste Fassung des Romans zu vollenden. Dass ich dafür mittlerweile nur noch drei Wochen übrig hatte, trieb mich dazu, trotz des verlockenden Urlaubswetters am Schreibtisch sitzen zu bleiben, statt ständig Eis essend am Weiher abzuhängen oder Handyvideos vom krähenden Herkules zu drehen. Am vorletzten Tag meines Aufenthalts schloss ich wie geplant das letzte Kapitel meiner Rohfassung ab und reiste dann am 23. Juli, nicht ohne Wehmut, zurück nach Berlin.
Jetzt liegen die 165 Seiten in der sogenannten Schublade, wo sie noch eine Weile ruhen sollen, bis ich sie wieder heraushole und weiter bearbeiten werde. Inzwischen kommen in meinem Roman auch ein paar durch den Garten rennende Hühner vor. Vielleicht legen sie mir ja ein paar Eier in die Schublade. Die werde ich dann zu Ostern anmalen und dabei an meinen schöpferischen Sommer in Mansfeld zurückdenken.