Der Winter ist ein rechter Mann,
kernfest und auf die Dauer,
sein Fleisch fühlt sich wie Eisen an
und scheut nicht süß noch sauer.
Ich mag den Winter und habe das hier und da mit Texten auch schon dokumentiert. Doch immer wenn ich etwas ganz besonders mag, lohnt es sich meist, ein wenig darüber nachzudenken. Unversehens präsentieren sich dann „Schattenseiten“, die ich nur erfolgreich verdrängt hatte. Auch beim Winter ging mir das so. Einige dieser „Schatten-Winter“ präsentiere ich Ihnen jetzt mit der leisen Hoffnung, dass sie sich jetzt im Frühherbst davon nicht allzu sehr von ihrer Wintervorfreude abbringen lassen. Wenn Sie etwas zaghaft veranlasst sind, wechseln Sie besser zu einem der positiven Jahresbeiträge.
Er zieht sein Hemd im Freien an
und läßt’s vorher nicht wärmen
und spottet über Fluß im Zahn
und Grimmen in Gedärmen.
Mein erster Winter in Wilhelmshaven beispielsweise, 1975, mit Freude erwartet – ich hatte mir schon ausgemalt, wie ich der wilden See bei Sturm zusehen und trotzen würden –, war wie ein heftiger Faustschlag vor die Brust. Ich bekam eine „Erkältung“, die sich gewaschen hatte, lag flach, die Nase lief, der Speichel rann, die Blase war entzündet und ich hustete wie ein Kettenraucher. Nach drei Tagen war ich so fix und fertig, dass ich mich in den Zug setzte und nach Hause fuhr. „Mein Gott, du musst sofort ins Krankenhaus“, rief meine Mutter, als sie mich sah. Da ging ich aber nicht hin und vier Tage später hatte sie mich wieder aufgepäppelt. Es dauerte aber noch ein paar Tage, bis ich mich wieder in den Norden traute, ging aber bis in den Februar grundsätzlich dick vermummt vor die Tür. Den Winter im nächsten Jahr nahm ich schon lockerer, war aber grundsätzlich auf der Hut. Passiert ist nichts.
Wenn Stein und Bein von Frost zerbricht
und Teich und Seen krachen;
Das klingt ihm gut, das haßt er nicht,
dann will er tot sich lachen.
1978, wir wohnten inzwischen im Münsterland, hatten wir uns mit Freunden zu Silvester in Dänemark verabredet. Das Haus war angemietet und nach Weihnachten fuhren die ersten aus Hamburg hin. Wir wollten aus Münster, andere Freunde aus Wolfsburg und Hamm kurz vor Jahresende dazu stoßen. Die Taschen waren bereits gepackt und blockierten den Flur, Listen wurden durchgesehen, das Auto – unser laubfroschgrüner Käfer – noch einmal in der Werkstatt gecheckt, dann gingen wir schlafen. Am nächsten Tag, dem 30. Dezember, sollte es los gehen. Als wir morgens aus dem Fenster schauten war unser Auto weg. Nicht nur unseres, sondern auch all die anderen. Eine Schneedecke hatte sie zugedeckt. Was war los? Das war nicht so schnell festzustellen wie heute – Internet gabs ja nicht. Das eingeschaltete Radio brachte für uns zunächst nur unverständliche Meldungen. Es dauerte eine Weile, bis klar war, dass eine Schneekatastrophe Norddeutschland in bisher nicht gekanntem Ausmaß heimgesucht hatte. Ältere Leute erzählten etwas von Hungerwinter sechsundvierzig-siebenundvierzig und von Kriegswintern, aber da hörten wir schon gar nicht mehr hin. Was wir vor unseren Augen fanden, war uns Katastrophenwinter genug. Die Linie der Schneekatastrophe verlief genau zwischen Münster und Hamm. Die Freunde dort wollten noch losfahren, realisierten aber, dass sie nicht weit kommen würden. Diejenigen, die schon in Dänemark waren, saßen fest – übrigens bis Ende Januar oder Anfang Februar, das weiß ich heute nicht mehr so genau – wir anderen konnten nicht dorthin. Die ganze weiße Pracht vor der Haustüre, die mir sonst Freude bereitet hätte trotz der Schneeschaufelei war nur noch zum Verzweifeln.
Sein Schloß von Eis liegt ganz hinaus
beim Nordpol an dem Strande,
doch hat er auch ein Sommerhaus
im lieben Schweizerlande.
Es ließen sich noch eine ganze Reihe weiterer Wintererlebnisse auflisten, die ich so nicht hätte haben wollen. Wie ich einmal bei spiegelglatter Straße quasi im Zeitlupentempo in ein anderes Auto hineingefahren bin etwa. Oder wie unser Sohn einen Schlittenunfall hatte. Der Winter, in dem unser erster Hund starb, ist auch nicht positiv in meiner Erinnerung verankert. Und dies und das. Ich merke aber, wie ich dazu gar keine Lust mehr habe. Die positiven Erinnerungen sind mir viel wichtiger, zumal wir immer seltener richtigen Winter – also mit Eis und Schnee – bekommen. Dass wir letztes Jahr Ende Dezember in der Schweiz, in Graubünden, noch einen prächtigen Schneewinter erleben durften, mit der ganzen Familie und vor allem mit den Enkelkindern, das gehört mit zu den schönsten Wintererinnerungen und vertreibt jede Winterdepression im Ansatz. Ich hoffe jedenfalls, dass noch einige Winter kommen, in denen ich noch so richtig durchgefroren nach Hause komme, mich auf heiße Schokolade oder heißen Tee freue und beim Aufwärmen schon wieder daran denken kann, was ich am nächsten Tag alles „draußen“ in der Kälte machen kann.
Da ist er denn bald dort, bald hier,
gut Regiment zu führen,
und wenn er durchzieht, stehen wir
und sehn ihn an und frieren.
(Matthias Claudius)
Lassen Sie den Winter in Ihren Gedanken nicht zum Depressions-Winter verkommen
Ihr
Horst-Dieter Radke