Wo lang?

wertvolle Hinweise

Wenn Tante Roswitha ausruft „Ich erkenne dich gar nicht wieder! Solche Sachen machst du doch gar nicht, Kind!“ und sich dabei auf die Ich-Erzählerin meiner neuen Geschichte bezieht, weiß ich, dass es mir gelungen ist, in die Haut einer anderen Person zu schlüpfen. Wenn Testleserin A sich über den unangenehmen Charakter meiner männlichen Nebenfigur beschwert, der ihr die Geschichte verleidet, Testleserin B sich wünscht, dieser ominöse, interessante Fremde möge doch ein wenig öfter auftauchen und Testleserin C sich über diesen putzigen Kauz amüsiert, der immerzu am falschen Ort auftaucht, weiß ich, dass es mir gelungen ist, eine lebendige und vielschichtige Nebenfigur zu erschaffen. Wenn an den Rändern meines Skriptes nach zehn Seiten die gnadenlosen Korrekturzeichen von Testleserin D fehlen, weil sie ihren Rotstift knabbernd im Mund statt zwischen den Finger hat, sollte ich über den Einstieg nachdenken und die ersten Seiten vielleicht ersatzlos streichen.

Wenn ein befreundeter Kommunikationsdesigner, selbst ein sehr emsiger und ehrgeiziger Schreiber, mich aufgeregt warnt, dass es diese Idee schon mindestens dreimal gegeben hätte und in vielfältigster Art schon auf dem Markt sei, weiß ich, dass meine Idee recht passabel ist und dass Otto-Normalbuch-Leser vielleicht sogar überrascht sein könnte.

Sobald sich im Besprechungstext-Forum wegen meiner Geschichte verbal die Birne eingeschlagen wird, kann ich gegebenenfalls davon ausgehen, dass sie polarisiert, und wenn sich trotz vieler nach oben gezeigter Daumen die Buchhändlerin aus dem kleinen Antiquariat um die Ecke nach der vierten Seite entsetzlich langweilt, habe ich wohl eher spannende Unterhaltung geschrieben, aber nichts literarisch Wertvolles.

Testlesermeinungen erden, verunsichern, beglücken, und im besten Falle spornen sie an.

Mein wichtigster Indikator bleibt aber mein eigenes Interesse, denn wenn ich mich beim Schreiben zu langweilen beginne, muss ich den Kurs ändern, auch ohne mich rückzuversichern.

Testlesermeinungen sind Markierungen im Fahrwasser, wenn der Kapitän schon ein bisschen Land sieht.
Aber wenn der innere Kompass blind ist, kann das ganze schöne Testlesen vielleicht umsonst gewesen sein.

Dorit David

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