Matthias Claudius – Kriegslied (1778)
’s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
Und rede Du darein!
’s ist leider Krieg – und ich begehre,
Nicht schuld daran zu sein!
Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Und blutig, bleich und blaß,
Die Geister der Erschlagenen zu mir kämen,
Und vor mir weinten, was?
Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,
Verstümmelt und halb tot
Im Staub sich vor mir wälzten und mir fluchten
In ihrer Todesnot?
Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute,
So glücklich vor dem Krieg,
Nun alle elend, alle arme Leute,
Wehklagten über mich?
Wenn Hunger, böse Seuch und ihre Nöten
Freund, Freund und Feind ins Grab
Versammelten und mir zu Ehren krähten
Von einer Leich herab?
Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre?
Die könnten mich nicht freun!
’s ist leider Krieg – und ich begehre,
Nicht schuld daran zu sein!
Doch Friede schaffen, Fried‘ im Land und Meere:
Das wäre Freude nun!
Ihr Fürsten, ach! wenn’s irgend möglich wäre!!
Was könnt Ihr Größers tun?
Dieses Gedicht entstand wenige Jahre nach dem verheerenden Siebenjährigen Krieg, der unter dem englischen Namen French and Indian War (1754 – 1763) als Vorläufer eines Weltkrieges auch auf dem amerikanischen Kontinent tobte. Nun drohte 1778 mit dem Bayerischen Erbfolgekrieg eine neue Katastrophe über Europa hereinzubrechen. Matthias Claudius, heute vor allem bekannt für sein Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“, schrieb in einem Brief an den Neffen des preußischen Königs, des Alten Fritz: „Bitten Sie doch den König, daß kein neuer Krieg werde.“
Und es ward tatsächlich kein neuer Krieg. Jedenfalls nicht in diesem Jahr und nicht in Europa.
Leider haben dies weder Brief noch Gedicht bewirkt. Österreich und Preußen waren nämlich vom großen Krieg noch zu erschöpft, um sich zu einer entscheidenden Kriegshandlung aufraffen zu können. Und weil es für die Soldaten nur Kartoffeln zu essen gab, ging dieser ausgefallene Krieg als „Kartoffelkrieg“ in die Geschichte ein.
Claudius hat das Gedicht mit viel Kunst verfasst. Umgangssprachliche Wendungen („s’ist Krieg“) sind in ausgefeilte Verse (Kreuzreim, fünfhebige Jamben abwechselnd mit dreihebigen, Wechsel von klingenden und vollen Kadenzen etc.) eingefügt. Am Anfang fordert das Ich den Friedensengel auf, den Krieg zu verhindern, mit der Begründung, dass es selbst „(n)icht schuld daran“ sein will. Dann stellt das Ich sich vor, wie ihn „im Schlaf“ die Bilder des Grauens überwältigen werden: erschlagene und verstümmelte Soldaten, wehklagende Hinterbliebene und „Hunger und Seuch‘“, die ihn von einer Leiche herab verurteilen. Keine fürstlichen Werte („Kron‘ und Land und Gold und Ehre“) könnten ihn mehr „freun“. In der letzten Strophe werden die Adressaten des Liedes direkt angesprochen: Die Fürsten könnten nichts „Größers“ tun als „Friede schaffen“: „Das wäre Freude nun!“ Diese Strophe wird Claudius 1782 im Wandsbeker Boten und 1783 in der Werkausgabe streichen.
Zunächst fällt auf, dass es sich trotz des Titels „Kriegslied“ eher um ein Antikriegsgedicht zu handeln scheint. Das Ich stellt sich die unabwendbaren Folgen des Kriegs vor und fordert dann die Fürsten auf, die Kriege sein zu lassen. Darin liegt eine (unfreiwillige?) Ironie, weil anscheinend selbst die Engel machtlos sind und nicht gegen Kriegswillen der Fürsten ankommen. Aber auf der anderen Seite wird damit dem Ich des Gedichts auch eine besondere, Gott und König herausfordernde Macht zugeschrieben. Das bürgerliche Individuum beginnt, wenn auch sehr verhalten, sich gegen Religion und Monarchie freizusetzen. Diese Störung des feudalen Weltlaufs kündigt sich schon in den formalen Auffälligkeiten und Unstimmigkeiten des Gedichts an: in der fehlenden fünften betonten Silbe im dritten Vers („s’ist leider Krieg – und ich begehre,“), in dem über das Versende hinausschießenden Enjambement („Verstümmelt und halbtot / Im Staub sich vor mir wälzten“) und in den unreinen Reimen („Krieg / mich“; „Nöten / krähten“, „freun / sein“).
Aber es kann, wohl gegen die bewusste Intention des Dichters, auch eine besondere historische Tragik herausgelesen werden. Denn mit dem Handels- und Bündnisvertrag im gleichen Jahr 1778 unterstützt Frankreich die amerikanischen Kolonien in ihrem Unabhängigkeitskrieg gegen England (1775 – 1783). Das heißt: In diesem aktuellen Krieg auf dem amerikanischen Kontinent setzen die Menschen ihre Rechte und Interessen gegen die englische Krone gewaltsam durch. Somit würden auch Leid und Schrecken, die ein Krieg notwendig mit sich führt, einen neuen Sinn bekommen: Die Menschen erkämpfen ihr Menschenrecht. Dies wird Vorbild sein für die Französische Revolution elf Jahre später, in der die Menschen- und Bürgerrechte zur Grundlage des Staates erklärt werden.
Die letzte, in vielen Ausgaben gestrichene Strophe, in der die Fürsten direkt aufgerufen werden, den Frieden zu schaffen, könnte somit auch als Warnung oder Drohung gelesen werden, dass eine neue Zeit, die Zeit der Revolutionen, angebrochen ist. Guck an, am Ende handelt es sich bei diesem Gedicht also um kein Schlaflied, sondern tatsächlich um ein „Kriegslied“.
Ihr Jürgen Block