Nun denken wir mal an nichts und nehmen Anstoß an folgendem Gedicht:
Venus und Stalin
Sie, ihre Füße badend, trägt kein Kleid,
Das zu durchnässen sie vermeiden müßte.
Sie zeigt dem All in Sommerheiterkeit
Den Hintern und die weltberühmten Brüste.
Er, nebst noch einer Schreibkraft, prüft, erwägt,
Am Saum des Quellbachs hingesteckt, Berichte.
Damit sie Zephir nicht von dannen trägt,
Benutzt er Kieselsteine als Gewichte.
Gelegentlich läßt er das Auge ruhn,
Das väterliche, auf den prallen Lenden
Der Göttin, die, versunken in ihr Tun,
ein Bein gewinkelt hebt mit beiden Händen.
Ein milder Glanz geht, eine stille Pracht
Unwiderstehlich aus von diesem Paar.
Die Liebe und die Sowjetmacht
Sind nur mitsammen darstellbar.
Peter Hacks
In einem Atemzug werden die römische Göttin der Liebe und der Staatenlenker mit zweifelhaftem Ruf genannt, oha! Zugegeben, das Gedicht ist kunstvoll, sehr kunstvoll. Statt subjektiven Befindens und Erlebens behandelt es Personen aus Mythologie und Historie. Wie in der Klassik, könnte man meinen, wenn es nicht ausgerechnet Stalin wäre.
Das Handbuch der deutschen Strophenformen sagt uns, die ersten drei Strophen folgen einer beliebten und weitverbreiteten Strophenform (jambischer Fünfheber mit Kreuzreim). Die Namen wohlbekannter Dichter seit dem Barock könnte man jetzt aufzählen, am Ende auch Johannes R. Becher, der zu Stalins Tod die berühmt-berüchtigte „Danksagung“ verfasst hat:
„Und kein Gebirge setzt ihm (=Stalin) eine Schranke,
Kein Feind ist stark genug, zu widerstehn“.
Wir sehen also, Peter Hacks pflegt die lyrische Tradition.
Aber da wäre noch die verflixte vierte Strophe, die sich trotz Kreuzreim von den anderen Strophen unterscheidet. Sie hat einen ganz besonderen Rhythmus, der immer auf einer betonten Silbe endet. Dafür gibt es kein bekanntes Vorbild in der deutschen Lyrik, sie ist ein Unikat, in dem eine besondere Botschaft stecken muss.
Welche? Die beiden ersten Zeilen der vierten Strophe (fünfjambisch und betont endend: „Pracht“ und „Paar“) erinnern an die elegischen Gedichte des Expressionismus. (Literaturtipp: „Der Gott der Stadt“ von Georg Heym oder „Auf den Tod einer alten Frau“ von Georg Trakl.)
Aber das Finale in den beiden Schlusszeilen der vierten Strophe (mit nur noch vier Hebungen) ist ein richtiger Knaller (die betonten Silben sind hervorgehoben):
„Die Liebe und die Sowjetmacht
Sind nur mitsammen darstellbar“,
Laut Handbuch ist dieser jambische Vierheber eine wenig kunstvolle und anspruchslose Form. Ja, Herr Hacks, was dachten Sie sich dabei? In den ersten Strophen haben Sie sich die lyrische Tradition mit traumwandlerischer Perfektion anverwandelt, und nun auf dem Höhepunkt endet Ihr Kunstwerk mit einem Straßenreim.
Dafür spricht: Diese Verse lassen sich gut sprechen, behalten und im Sprechchor skandieren. Außerdem ist der Schluss mit dem Ganzen über das Reimschema noch verklammert, anders ausgedrückt: Der Jambus hämmert seine Parole in den Kopf und springt auf den Körper des Lesers über. Kurz: Das Gedicht wird praktisch.
Und nun zum Inhalt.
Die erste Strophe ist Venus, die zweite Strophe Stalin gewidmet; beides sinnliche Symbole, die für größere, die Sinne überschreitende Zusammenhänge stehen. In der dritten Strophe werden sie als Paar betrachtet, formal noch verstärkt durch das Enjambement, den geradezu erotischen Übergriff über die Versgrenze hinaus:
„… auf den prallen Lenden / Der Göttin…“
Ja, die Erotik. Hacks lässt Meister Eros natürlich freien Lauf, hat er je einen unerotischen Vers geschrieben? Nein. Was ist schöner: Venus, wie sie sich uns in der Vorstellung darbietet, oder der göttinnengleiche Vers, in den sie gekleidet ist?
Doch das heilige Paar bildet keine bruchlose Einheit, sondern ist durch den Reim innig getrennt. Der Kreuzreim zwingt die Verse, sich gegenseitig zu übergreifen und Nicht-Zusammenreimendes einzuverleiben. Venus und Stalin bilden ein Paar und liegen sich doch überkreuz.
Jetzt die erotischste Stelle, wo Venus ihr angewinkeltes Bein hochhebt und ihr Geschlecht zeigt. Liebe ist eben Beides, edles weltenvereinigendes Bestreben und sinnliche Geilheit. Sie beginnt und endet in den Sinnen, führt, gut gemacht, zu unübersteigbaren Gipfeln und beim Abstieg zum Einblick in den Zusammenhang der Welt.
Wieso jetzt noch weitere Worte verlieren?
Weil die Welt nach abgeklungenem Höhenflug wieder in ihr Unbefriedigtsein zurückfällt, heißt: Noch haben Gewalt und Unvernunft die Oberhand. Die Liebe ist Wunsch und Praxis einer besseren Welt. Aber wie kommen wir dahin?
In der vierten Strophe steht die Lösung. Die Liebe braucht zur Durchsetzung die Staatsgewalt. Liebe ohne Staatenführer, der ihr Bestand geben könnte, ist leer; dieser ohne jene ist blind.
Die Schlussformel, dass Sowjetmacht und Liebe nur „mitsammen darstellbar“ sei, erinnert natürlich an Lenins Spruch, Kommunismus sei Sowjetmacht plus Elektrifizierung, der von Hacks poetisch umgemünzt wird.
Geschrieben wurde das Gedicht in den 90er-Nachwendejahren, seit denen Venus und Stalin nicht mehr „mitsammen“ sind.
Aber wer soll es bitte sein, der das heilige Paar jetzt noch „darstellt“? Antwort: Die in der zweiten Strophe auftretende Schreibkraft, die als Augenzeugin die Szene zu Protokoll gibt. Sie ist das proletarische Ego, das uns im Gedicht anspricht und herausfordert. Worüber weiter nachzudenken ist: Sie ist die einzige Person in dem erotischen Gedicht, der kein eindeutiges Geschlecht zugewiesen ist, sie ist divers oder eben alles mitsammen.
Das ist ein typisches Hacks-Gedicht: Nicht auf schnellen Konsum und einfache Antworten aus, sondern tief verwurzelt in klassischer Tradition und den politischen Zeitläuften, durch und durch dialektisch, Denk- und Tatkraft aus dem Leser herauskitzelnd, also wie gemacht für die Übergangsgesellschaft, und von unglaublicher Schönheit. Den politischen Konsequenzen der Gedichte kann man sich vielleicht noch mit Mühe entziehen, aber ihrer Schönheit nicht.
Letzte Frage: Warum also Gedichte lesen? Weil sie die Sinne anstoßen und uns in Bewegung setzen.
Probieren Sie es aus. Die Gedichte von Peter Hacks liegen in einer wunderbaren Werkausgabe bereit und warten auf sinnliche Leser und Leserinnen.
Ihr Jürgen Block
Wir danken dem Eulenspiegel-Verlag für die freundliche Unterstützung beim Abdruck des Gedichts.