Das Nuttenkapitel oder: Von der Schwierigkeit, für Lesungen die richtigen Buchstellen auszuwählen

„Immer den Anfang vorlesen“, empfiehlt ein Autorenkollege, der historische Romane – im weitesten Sinne – schreibt, also eigentlich Liebesgeschichten, die vorgeblich im Mittelalter (plusminus 300 Jahre) spielen, sich aber anfühlen, als hätte man die Figuren aus der Jetztzeit dorthin gebeamt. Der Mann hat’s auch leicht, denn es spielt eigentlich keine Rolle, was er vorträgt. Seine Bücher ertrinken in einer Personalschwemme, weshalb es meist ein hilfreiches Figurenverzeichnis gibt, und wenn er nicht gerade eine neue Person einführt, berichtet er von Schlachten, Intrigen und Orgien – oder er beschreibt Landschaften. Ich war schon auf fünf oder sechs seiner Lesungen, hatte aber den Eindruck, er würde immer aus demselben Roman vortragen. Vielleicht war’s tatsächlich so – ich werde ihn bei Gelegenheit fragen.

„Es muss in sich geschlossen und verständlich sein“, empfahl mein Lektor, als er noch mein Lektor war – er hat leider den Verlag gewechselt. „Und möglichst lustig.“ Bei meinem vorletzten Roman, „Sommerhit“, hat mich vor allem diese Empfehlung ins Schwitzen kommen lassen, denn das Buch ist nicht sehr lustig. Immerhin, das aktuelle Machwerk – „Leichtmatrosen“ – hat mich wenigstens beim Schreiben oft zum Lachen gebracht. Insofern sah ich der Buchpremiere und den gebuchten Lesungen relativ gelassen entgegen. Ein Kapitel aus dem Manuskript hatte ich außerdem lange vor dem Erscheinen zweimal vor Publikum getestet, und beide Publikümmer hatten ausgelassen gegackert. Okay, eines davon war kollektiv volltrunken. Zählen wir also nur das andere.

Als die Buchpremiere dräute, gar die möglichen Gründe, sie kurzfristig und inzwischen äußerst lampenfiebrig abzusagen, kaum noch an einem Finger abzuzählen waren, zumal der Veranstaltungsort Kartenausverkauf meldete, diskutierte ich mit einer weiblichen Person, die mir sehr nahesteht, diese Frage. „Den Anfang“, schlug sie vor, dabei hatte sie mich zu keiner einzigen Lesung des Histo-Schinken-Kollegen begleitet. Dann zog sie die Augenbrauen zusammen. „Ich mag das Kapitel, in dem die beiden Figuren über Adorno sprechen. Und das, in dem die Hauptfigur darüber nachdenkt, wie es ist, Vater zu sein.“ Na prima. Adorno und Vaterschaftssorgen. Zuverlässiger kann man ein Lesungspublikum wohl kaum ins Koma schicken. Warum nicht gleich das Inhaltsverzeichnis und die Widmungen?

„Auf keinen Fall …“, ergänzte sie nach ein paar Sekunden, wobei sie mich sehr ernst ansah. „Auf keinen Fall das Nuttenkapitel. Wenn Du das liest, komme ich nicht zur Buchpremiere.“

Sie sagte nicht wirklich „Nuttenkapitel“, sondern verwendete eine etwas kompliziertere Beschreibung, aber sie meinte das Nuttenkapitel. Vermutlich haben Sie’s bereits erraten – ausgerechnet das Nuttenkapitel war dasjenige, das die Testpublikümmer zum Ausflippen gebracht hat. „Dieses Kapitel zeigt das Buch in einem falschen Licht“, sagte sie noch. „Außerdem ist es frauenfeindlich und sexistisch. Im Kontext ist das in Ordnung, aber wenn es für sich allein steht, denken alle, der gesamte Roman wäre so.“

Who the fuck cares?,  war die erste Antwort, die mir einfiel, die ich mir aber verkniff. Stattdessen nickte ich und tat so, als würde ich nachdenken.

Um ehrlich zu sein (<- diese Formulierung liebe ich übrigens) – es ist mir egal, wer zu meinen Lesungen kommt, Hauptsache, es kommt überhaupt jemand. Man kann sich seine Leser ohnehin nicht aussuchen, und es sind tatsächlich oft die falschen. Das macht nichts, weil man sowieso nicht für spezielle Leser schreibt – wer das zu tun versucht, schreibt letztlich für niemanden. So ähnlich verhält es sich bei Lesungen, bei denen der Grundsatz gilt, dass man schon froh sein kann, wenn zusätzlich zum Veranstalter, seiner Familie, seinen Angestellten und ein paar zum Kommen verdonnerten Freunden überhaupt jemand erscheint. Autoren aus der Champions League mögen in rappelvollen Sälen lesen, die seit Monaten ausverkauft sind, aber wir, der Bodensatz der Unterhaltungsliteratur, jubeln innerlich bereits, wenn ein paar Gäste notgedrungen in die erste Reihe vorrücken müssen, weil die anderen besetzt sind. (Am Rande bemerkt – ich habe keine Ahnung, woher diese Angst kommt, aber die Erste-Reihe-Phobie ist ein noch hartnäckigeres unerklärliches Phänomen als beispielsweise das Christentum.)

Ich rede hier übrigens von der ersten Reihe von insgesamt vier oder fünf, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Würden wir Nicht-Champions-League-Autoren „gegen die Tür lesen“, also nach zahlenden Gästen honoriert werden, wie das für viele tingelnde Unterhaltungskünstler leider gilt, wären wir noch ärmer – und würden bei jeder Lesereise draufzahlen. So tun es die Veranstalter. Bei dieser Gelegenheit – danke dafür!

Gut, bei der Buchpremiere im „Heimathafen“ in Berlin-Neukölln waren’s ein paar mehr Reihen als vier oder fünf, aber das war auch ein Heimspiel, zählt also in dieser Hinsicht nicht.

Die Frage, was ich lesen sollte, hatte damit allerdings wenig zu tun. Der Roman mag hauptsächlich unterhaltsam sein, hat aber, wie ich nach wie vor meine, durchaus Tiefgang. Wie bringt man diese beiden Aspekte im Rahmen einer fünfzigminütigen Lesung – unterm Strich knapp 30 Seiten – zusammen? Und – muss man das überhaupt tun? Warum kommen Leute eigentlich zu Lesungen? Also die Leute, die das freiwillig tun und nicht mit dem Autor verwandt, verschwägert oder wenigstens befreundet sind? Was erwarten sie?

 

Die Antwort ist einfach: Das Nuttenkapitel.

 

Bei der Buchpremiere habe ich es nicht vorgelesen, weshalb ich im Hauptteil der Veranstaltung fortwährend das Gefühl hatte, einen Fehler zu machen, obwohl das – ohnehin freundlich gesinnte – Publikum auch so seinen Spaß zu haben schien. Das Problem ist: Wenn es ein Nuttenkapitel gibt, dann muss man es vortragen. Es spielt keine Rolle, ob man dadurch einen falschen Eindruck erwecken oder etwas Entscheidendes verraten könnte – das Vorhandensein eines Nuttenkapitels ist eine Verpflichtung, der man nicht ausweichen kann.

Viele Romane haben so ein Kapitel, im Idealfall sogar mehrere davon. Wenn es sich um den letzten Abschnitt handelt, hat man ein Problem, ansonsten gilt diese Regel ohne Ausnahme.

Die nächste Lesung fand in einer Kleinstadt in Süddeutschland statt. Dort blieb die erste Reihe unbesetzt, was ich widrigen Umständen (Wetter, wenig Werbung, kurzfristiger Termin, ungünstiges Horoskop, regionale Eigenarten) zuschrieb.  Ich las, selbstverständlich, unter anderem das Nuttenkapitel, und dem überschaubaren Publikum war’s eine Freude. So dann auch bei den folgenden Lesungen, die deutlich besser besucht waren. Hin und wieder fing ich zwar den leicht irritierten Blick irgendeines Gasts auf, aber die Reaktion der Mehrheiten, jung wie alt, groß wie klein, dick wie dünn, weiblich wie männlich, war konstant begeistert. In einigen Fällen gab ich ad hoc Zugaben, die den Kontext lieferten und/oder das Nuttenkapitel etwas relativierten, aber auch im Herbst, wenn die nächsten Lesungen anstehen, werde ich so verfahren. Nuttenkapitel.

Ihr wollt es.

Ihr bekommt es.

Denn. Lesungen sind, obwohl das viele Autoren zu glauben scheinen, keine Werbeveranstaltungen. Ihre Reichweite ist gering, selbst wenn es ein bisschen Presse und ausverkauftes Haus gibt, und das Publikum lässt sich immer in zwei Hauptgruppen aufteilen: Die einen kennen das Buch sowieso schon, und die anderen werden es wahrscheinlich ohnehin nicht kaufen – oder sie erwerben ein Exemplar, lassen sich das signieren und stellen es dann ins Regal. Niemand kommt zu einer Lesung, um sich die Kaufentscheidung für ein spezielles Buch zu erleichtern. Man trifft also einerseits Leute, für die es keine Überraschungen gibt und andererseits solche, die man kaum manipulieren kann. Es spielt aus Marketingsicht keine Rolle, was man liest – es sei denn, man hat genug Zeit, um das gesamte verdammte Buch zu präsentieren. Das Publikum kommt, um einen zu sehen und/oder um unterhalten zu werden. Und man reißt es nur – richtig! – mit dem Nuttenkapitel. Gedanken, man würde auf diese Weise sein Pulver (bzw. das des Romans) verschießen, sind abwegig und grundlos. Und es gelingt ohnehin nie, Stellen zu finden, die exemplarisch für den ganzen Text stehen. Weshalb man darauf verzichten sollte, sie zu suchen: Wer aus dem Vollen schöpfen kann, muss das auch tun. Alle anderen können gerne den Anfang, das Inhaltsverzeichnis oder die Widmungen vortragen.

Nachbemerkung: Ich habe den Kollegen befragt. Er liest tatsächlich immer aus demselben Buch. Schlicht, weil er nur eines veröffentlicht hat, das aber über die Jahre bei verschiedenen Verlagen unter verschiedenen Titeln erschienen ist, wobei er lediglich Figurennamen und Schauplätze leicht verändert hat. Ich bin allerdings, erklärte er nach der Beantwortung meiner Frage grinsend, der erste, der das bemerkt hat.

Ihr Tom Liehr

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Ein Gedanke zu „Das Nuttenkapitel oder: Von der Schwierigkeit, für Lesungen die richtigen Buchstellen auszuwählen“

  1. moin,
    kompliment, tom. ich las die überschrift und hab mit mir gewettet – der artikel ist von dir. *scroll bingo! das thema interessiert mich brennend. lese später. freu mich drauf.

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