Das Leben als Puzzle – Georg Perec: Das Leben Gebrauchsanweisung

Ein Roman der tausend Geschichten, zum Beispiel vom Mann, der die Wörter auslöschte, oder über die Frau, die dreiundachtzigmal den Teufel erscheinen ließ, bis hin zum Akrobaten, der nicht mehr vom Trapez herunterwollte, – kurz, Geschichten von den 99 Räumen und ihren Bewohnern eines Pariser Stadthauses, das alles und noch viel mehr bietet „Das Leben Gebrauchsanweisung“ von Georges Perec.

Man kann überall nachlesen, dass der Autor – Mitglied des ehrenwerten Autorenvereins Oulipo – in seinen Romanen irgendwelche Listen, Algorithmen oder verrückten Regeln abarbeitet. So soll der Erzähler vom „Leben“ das alte Schachproblem mit dem Springer lösen und die 99 Räume im Rösselsprung abklappern, ohne einen Raum zu verfehlen oder doppelt zu besetzen. Außerdem sollen der Beschreibung der Räume 42 Listen zugrunde liegen, wenn ich jetzt so nachblättere fallen mir die ewigen Rauten-, Kugel- und Fischgrätenformen auf, Möbel in Empire-, Henri II-, Regency-, etc.-Stil, dazu die ganze raufundrunterfließende Farbpalette – fast hätte ich angefangen, selbst Listen über die Beschreibung der Einrichtung der Räume anzulegen.

Muss man als Leser das alles wissen? Eindeutig: Nicht unbedingt. Denn der Roman ist auf jeden Fall lustig. Auch wenn einige Geschichten auf mehrere Kapitel verteilt sind oder auch nicht alle zu Ende erzählt werden, so verliert man nie den Überblick, da es ein Personen- und Sachregister gibt, das häufig weiterhilft. Außerdem kann man den Roman lesen, wie man gerade drauf ist; entweder von vorne nach hinten, oder aber auch nach eigenem Gusto hin- und herblättern wie in einem Ikea-Katalog.

Eine der sich durch den ganzen Roman durchziehende Hauptgeschichte handelt vom Milliardär Percival Bartlebooth, der (nachdem er in zehn Jahren das Malen gelernt hatte) zwanzig Jahre lang von 1935 bis 1954 durch die Welt reist und 500 Hafenaquarelle malt, die er von seinem Mitarbeiter und Mitbewohner des Hauses per Hand zu Puzzles verarbeiten lässt, um sie nach der Rückkehr wieder zusammenzupuzzeln, um sie –  so schließt sich der Kreis – am Ende feierlich im Hafenbecken zu versenken.

In der Einleitung zum Roman heißt es über die „höchste Wahrheit des (handgemachten) Puzzles“:

„(A)llem Anschein zum Trotz ist es kein solitäres Spiel: jede Gebärde, die der Puzzlespieler macht, hat der Puzzlehersteller vor ihm bereits gemacht; (…) jede Intuition, jede Hoffnung, jede Entmutigung, sind von dem andern ergründet, auskalkuliert, beschlossen worden.“

So ist also auch das Lesen kein solitäres Spiel, sondern die Interaktion zwischen Autor und Leser. Aber es ist häufig eine sehr leise und behutsame Interaktion, bei dem der Leser alle Sinne schärfen muss, um die Handzeichen des Autors zu registrieren und die Puzzleteile richtig anzulegen.

So könnte man zur Jahreszahl 1935 (als Bartlebooth‘ Reise beginnt) ganz vorsichtig das unheilvolle Ereignis der Nürnberger Rassengesetze herbeiassoziieren, als ein Detail, das einem beim Lesen nur auffällt, wenn man es auch sucht. Überhaupt muss ich beim Lesen der listenartig aufgezählten Einrichtungsgegenstände immer auch an die durch Krieg zerstörten Häuser denken, oder an Auktionslisten vom Hab und Gut der deportierten Juden. Das alles ist objektiv in die Geschichte eines auch und gerade von der Kriegszerstörung scheinbar noch verschonten Hauses eingeschrieben und eingebrannt.

Dagegen sagt der Erzähler wie zum Trotz gegen die reale Geschichte des Zweiten Weltkriegs über Bartlebooth‘ Puzzleprojekt:

„Die historischen und politischen Umstände (…) hatten praktisch keinen Einfluss auf die Reisen.“

Aber ist das wirklich glaubhaft angesichts eines Krieges, der halb Europa in Schutt und Asche gelegt hat? Hier stellt sich die Frage: Ist dem sonst so akribisch aufzählenden Erzähler noch zu trauen? Oder zeigt dieser, indem er die Zerstörungen großzügig übersieht, hier seinen Widerstand und Protest gegen eine unerträgliche Wirklichkeit, der er mit und in der Fantasie Grenzen setzt?

Vielleicht kann man es so auffassen, dass der Erzähler sich mit den auferlegten Regeln (Rösselsprung, Listen etc.) selbst einen Freiraum schafft, so dass die Welt der Gewalt dem Erzählen allenfalls noch als Negativ aufgeprägt ist, die der Leser nur noch vorsichtig ertasten kann.

Am Ende des Romans stirbt Bartlebooth über seinem 439. Puzzle, in der Hand das letzte Puzzleteil mit der Form eines W, während das schwarze Loch, zu dem das Teil gehören sollte, ein X ist. Dies lädt durchaus zu tiefsinnigen Überlegungen ein, so lange man sich kein X für ein U vormachen lässt.

Das Lebensprojekt von Bartlebooth und dem Erzähler scheint gescheitert zu sein. Denn Puzzlevorbild und Puzzlespiel, „Leben“ und Leben wollen letztlich doch nicht zusammenpassen, hinter dem tausendfachen Aufzählen scheint keine Welt mehr zu sein. Auch hier fragt sich, ob diese Unpässlichkeit des Erzählens an der Unfassbarkeit des Lebens liegt – oder doch eher an der Begrenztheit der Puzzle-Metapher. Die einzelnen Puzzleteile drücken isoliert für sich, abgeschnitten vom Ganzen, natürlich nichts aus, erst mit allen anderen zusammengesetzt stellt sich das ganze Bild her – oder eben nicht, wenn ein blödes Teil verloren gegangen ist.

Wie auch immer: Als ich mir den Roman „Das Leben Gebrauchsanweisung“ wieder vornahm (in der wunderbar überkandidelten Erstauflage 1982 mit beiliegendem Puzzle in 97 Teilen von Zweitausendeins) war er frisch wie am ersten Tag. Aber dann gab es die magischen Momente, wo ich mich als Abiturient auf dem Bett lesen sah, ich als früherer Mensch. Da taten sich schwarze Löcher auf, wo der Erzähler mich auf außerordentliche Reisen mitnahm, so dass Vergangenheit und Zukunft zu einer einzigen Gegenwart zusammenflossen, und wo ganz plötzlich für einen klitzekleinen Moment die Welt wie ein gelöstes Puzzle aufschien – um sofort wieder zu verlöschen wie Bartlebooth‘ Aquarelle im Wasser.

Ihr
Jürgen Block

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